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Zwischen Ost und West

 

 

Würde man eine Statistik führen über die häufigsten Wörter, die EU-Politiker in ihren Reden verwenden stünde das Wort gemeinsam an erster Stelle. Ursula von der Leyen leiert die selbe Leier tagein tagaus. Bei aller Sonntagsrednerei muss man doch sehen, dass wir heute im friedlichsten Europa leben dürfen, das es jemals gab. Dass Frieden herrscht ist aus der Sicht jüngerer Generationen eine Selbstverständlichkeit. Erstaunlicherweise war es möglich, durch wirtschaftlichen Schulterschluss Deutschland und Frankreich, die beiden Erbfeinde auf dem Kontinent, einander nahe zu bringen, sodass die Chance auf einen erneuten militärischen Konflikt nach hundertfünfzig Jahren der gegenseitigen Zerfleischung heute nahezu bei Null liegt. Europa ist das einzige Beispiel auf der Welt, wo aus jahrhundertealten Feinden über die Zeit Partner und schließlich sogar Freunde geworden sind.


Zurecht blicken wir als moderne Westeuropäer heute eher auf andere Teile der Welt und fragen uns, was unsere Rolle in einer neuen globalisierten Welt sein könnte. Uns wird nun immer mehr klar, dass der Osten Europas teilweise ganz andere Erfahrungen gemacht hat. Die Wunden der beiden Weltkriege und der territorialen Verschiebungen sind dort nicht so leicht verheilt wie bei uns und ziehen immer noch Leid und Demut nach sich. Wir sehen, dass innerhalb dieses Kontinents die Auffassungen von Nationalstaaten auseinandergehen. Mit Polen und Ungarn findet sich die von Westeuropa dominierte EU immer wieder im Zwist.

Vor allem aber spüren wir, dass wir uns in der Mitte befinden zwischen zwei Mächten, die die grossen Antipoden des einundzwanzigsten Jahrhunderts bilden werden. Die USA und China werden den Kampf austragen, der über die neue globale Weltordnung entscheiden wird. Die Konkurrenz wird sich mit den zunehmenden ökologischen Problemen der Klimaerwärmung und der Ressourcenknappheit immer mehr zuspitzen. Die Frage nach dem besseren System wird die Weltgesellschaft in einem Masse spalten, wie wir es auch im Kalten Krieg nicht kannten. Durch die Globalisierung, die bisher nur auf wirtschaftlicher Ebene stattgefunden hat, wird auch die politische Ordnung sich verändern. Solange der Westen sich nicht von seiner eingerosteten Form des Kapitalismus verabschiedet und sich zu einer Gemeinwohlökonomie weiterentwickelt, werden sozialistische Ideen, die in China nicht auf individuellen Menschenrechten beruhen, sich in der restlichen Welt ausbreiten. Das alte Versprechen des Westens von individuellem Glück wird immer weniger Anklang finden. Es wird dem Narrativ der Kehrseite von Zerstörung von Lebensgrundlagen Platz machen. Solange in den USA das Dogma des Liberalismus alle sozialen Gedanken systematisch im Keim erstickt, wird sich die US-Gesellschaft und in ihrer Kultur nicht weiterentwickeln können.


China hingegen kommt mit einer Vision der Zukunft daher. Geostrategisch betreibt man Weltpolitik in höchster Dimension. China sieht den gesamten Erdball als strategische Karte und spielt das Spiel indem es globale Handelsrouten enorm langfristig ausbaut und massiv in Drittstaaten, vor allem in Afrika, investiert. Man hat ausserdem das kapitalistische Wirtschaftssystem inkorporiert und dominiert immer mehr die Weltmärkte. Man kauft Staatsgebiet anderer Länder auf, übernimmt ganze Häfen und beginnt nun nach Vorbild von US-Expansionspolitik Militärstützpunkte im Ausland zu bauen. Der Chinesische Traum beruht auf der Überzeugung, dem Wohle aller Menschen nach chinesischem Vorbild zu dienen und den Weg in die neue Welt zu bereiten.

Wir als Westeuropäer hingegen werden erkennen, dass wir auf anthroposophischer Ebene die Mitte dieser zwei Welten bilden. Die Erfahrungen, die wir im Verlauf der Epochen mit verschiedensten Machtsystemen gemacht haben, geben uns viele Möglichkeiten, über die Gesellschaft der Zukunft nachzudenken. Viele Keime des Sozialismus sind in europäischen Ländern entsprungen. Auch frühe Entwicklungen vom heutigen Rechtswesen und modernen Staatsformen entstanden bei uns, vom Kapitalismus ganz zu schweigen.

Die Frage ist, ob wir uns als Europa entscheiden werden, als vereinte dritte Großmacht die Weltbühne zu betreten. Als geeinter Akteur der unterschiedlichsten Kulturen wären wir als Vermittler und Treiber der Entwicklung sehr glaubwürdig. Leider scheint es im Moment sehr unwahrscheinlich, dass wir Konsens finden über gemeinsame europäische Außenpolitik. Desto dringender sollten wir erkennen, wo die offensichtlichsten Probleme liegen. Innere Einigkeit ist das erste, was wir herstellen müssen, wollen wir nach außen hin Einfluß nehmen. Die engere Einbeziehung von Osteuropa ist dringend gefordert. Auch ein besseres Verhältnis zu Russland ist notwendig, wenn wir auf dem eurasischen Kontinent ein Gleichgewicht herstellen wollen. Gesellschaftlicher Wandel, so wie wir ihn uns für Osteuropäische Länder wie etwa Russland wünschen, ist eine langsame Entwicklung und beruht wie schon zu Zeiten Willy Brandts auf Wandel durch Annäherung. Auch wenn, die Aufgaben groß sind, sollten wir daran denken, was die Historiker in tausend Jahren vielleicht mal über unsere Zeit sagen werden. Auf jeden Fall wird man über das Einundzwanzigste Jahrhundert wissen, dass hier die Weichen gestellt wurden für die moderne Globale Gesellschaft, die in einem anderen Naturverhältnis und auch in einem neuen interkulturellen Verhältnis unter sich steht. Dabei könnte die europäische Idee wichtige Grundpfeiler bilden.


 

Februar 2021

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