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Sensibel und polemisch


 

Sprechen Sie über Gefühle? Wahrscheinlich schon. Heutzutage ist das nichts außergewöhnliches. Früher war das anders. Noch vor wenigen Jahrzehnten hat man nicht einmal in der Ehe über Gefühle geredet. Unsere Gesellschaft ist emotionalisiert worden. Akzeptiert wird, was früher als Tabu galt. Es ist wichtig, wie man sich fühlt und dass man deswegen respektiert wird.


Wir machen bei diesem Thema rasante Fortschritte. Es gibt kaum seriöse Clubs mehr, die kein Awareness-Konzept beim Eingang hängen haben. In Youtube-Videos und Filmen gibt es grundsätzlich Triggerwarnungen. Jemand könnte den Inhalt als anstossend, verstörend oder beleidigend empfinden. Mit der Einführung des Gendersterns in die Sprache vieler progressiv ausgerichteter Leute wurde die Adressierung aller Geschlechter gefördert. Solche kulturelle Entwicklungen sind in den westlichen Nachkriegsgesellschaften neu und verlaufen rasant. Man darf nie unterschätzen, geschweige denn bestreiten, welch gewaltige progressive Schritte unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten genommen hat. Dabei geht es im Kern um Gerechtigkeit, um Rücksichtnahme, was eine gute Sache ist. Alles, was irgendwie verletzend sein könnte, steht zur Debatte. Songtexte von Bands werden hinterfragt, Winnetou soll nicht mehr gelesen werden und weisse Reggae-Musiker mit Dreadlocks können teilweise nicht mehr auftreten. Sehr schnell wird Diskriminierung, kulturelle Aneignung, rassistische und sexistische Untermalung gewittert. Sensibilität und Rücksichtnahme werden gefordert. Es müssen sich alle wohlfühlen können.

Beobachten lässt sich dabei, dass die Sensibilität, die vom progressiven Teil der Gesellschaft gefordert wird, oft der anderen Seite, die sich nicht schnell genug anpasst, nicht entgegengebracht wird. Der Umgang mit milderer Sprache, die eine grössere Sensibilität aufweist, wird aussen vor gelassen. Debatten über diese Themen sind von Polemik nahezu durchdrungen. Ein häufiges Beispiel ist die Adjektivierung -feindlich. Etwas, das man zum Beispiel in einem Diskurs um die Rechte von Transmenschen kritisch erörtert, kann einem das schnell als trans-feindlich ausgelegt werden. Dabei wird so selbstverständlich mit dem Wort feindlich umgegangen, als ob es normal wäre dass wir von “Feinden” umgeben sind. Einen Feind hat man im Krieg. In einer Debatte hat man einen Kontrahenten. Es ist die verbale Zuspitzung des Gegenübers, um ihm seine Legitimität abzusprechen. Personen werden ganz selbstverständlich als transfeindlich, frauenfeindlich, fremdenfeindlich etc. bezeichnet. Begriffe wie Rassistisch, Sexistisch werden heute inflationär verwendet, teilweise ohne dass die ursprüngliche Bedeutung der Begriffe reflektiert wird. So berechtigt die Debatten sind, so sorgfältig sollte man die richtigen Worte wählen. Vor zwei Wochen war Frauenstreik. Viele sprechen davon, dass Frauen bei uns diskriminiert und unterdrückt werden. Nicht zu bestreiten, dass wir gesellschaftlich noch viel an der Gleichstellung zu arbeiten haben. Aber eine Wortwahl wie Diskriminierung und Unterdrückung ist im Hinblick auf die Situation von Frauen in Afghanistan, in Indien, im Iran und in hundert anderen Ländern der Welt, geradezu zynisch.


Auch der Katalog von modernen Kampfbegriffen wird immer grösser. Immer mehr neue Wortschöpfungen werden großzügig ins Felde geführt. Derart rassistische Begriffe wie White Trash sind gesellschaftstauglich. Seit neuestem gibt es den Begriff des Men Spreading. Damit beschreibt man die Unsensibilität von Männern, die ihre Beine in öffentlichen Verkehrsmitteln zu sehr ausbreiten. Der Begriff verwendet, obwohl er nüchtern betrachtet absolut sexistisch ist. Man stelle sich nur mal vor, welcher Shitstorm der Begriff Women Spreading auslösen würde. Es gibt kaum ein Begriff, der in kulturellen Debatten häufiger verwendet wird als der Alte Weisse Mann. Jeder und jede weiss, welches stereotypische Bild gemeint ist. Objektiv betrachtet ist der Begriff an sich eigentlich mit rassistischen und sexistischen Vorurteilen behaftet.

Weil die Wandlung mit sehr viel Emotionalität einhergeht, verleitet sie auch zur Unbesonnenheit und Rücksichtslosigkeit. Die Fürstreiter*innen sind meistens junge Menschen mit starkem Gerechtigkeitsempfinden. Der Kampf um der Gerechtigkeit Willen im Namen aller unterdrückter und diskriminierten Aussenseiter leitet einen schnell in das Denkschema Gut gegen Böse. Oft gerät die eigentliche Philosophie der Bewegung dabei in den Hintergrund und die Denunzierung des anderen gewinnt die Oberhand. Schnell kann es passieren, dass Sexismus mit Sexismus bekämpft wird und Rassismus mit Rassismus. Die kulturelle Wandlung zu mehr Gleichstellung und Sensibilität muss aufpassen, dass sie sich nicht zu einem simplen Rachefeldzug entwickelt, in dem kein wirklich neues Denken verankert wird. Wahrscheinlich ist sie wie jede Evolution und Fortschrittsbewegung dialektisch. Wenn das Ziel ist, die Menschen sensibler zu machen, dann muss sie diese Sensibilität allen Mitgliedern der Gesellschaft entgegenbringen.

Juni 2023

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