Die Reaktionsgesellschaft
Es ist erstaunlich, wenn man sich manchmal im Klaren wird wie viele Dinge wir aus reiner Gewohnheit tun. Gewohnheit ist aus der Fähigkeit des Erinnerns entstanden. Diese ist notwendig für unser Überleben. Dass wir uns an Dinge erinnern können und somit unser Handeln nach Erfahrungen unterschiedlichster Art ausrichten können, trainiert unsere Achtsamkeit. Doch Gewohnheit ist auch eine Entlastung. Sie nimmt uns im Kleinen viele Entscheidungen ab. Der Griff zum Smartphone in einer kurzen Pause füllt eine Lücke. Heute konnotieren wir die Abwesenheit von Handlung oder Informationsaufnahme mit Leere, und somit mit etwas negativem. Im Zug aus dem Fenster zu schauen war früher die Norm, heute ist es Zeitverschwendung.
Viele Leute versuchen der modernen Stresskultur unter dem Dauerbeschuss der Medien und dem Überangebot von Mediatheken in allen erdenklichen Geschmacksrichtungen mit spirituellen Methoden entgegenzuwirken. Meditation ist wieder ein Trend geworden. Mit innerer Einkehr will man sich wieder darauf besinnen, was die Grundbedürfnisse sein könnten. Am Inneren zu arbeiten ist immer schwieriger. Wir sind trotz allem Individualismus soziale Wesen. Der Drang, uns mit unseren Mitmenschen zu vergleichen, ist stark. Doch diese Orientierung an anderen bringt eben auch eine gewisse Entlastung. Sie nimmt uns die schwere Entscheidung ab, für uns selbst zu entscheiden was ein erfülltes Leben ist. Aufgrund dieser reaktionärer Grundhaltung denken viele von uns immer weniger über sich selber nach und was man eigentlich will. Wir driften unterbewusst in Funktionalität ab. Unser soziales Umfeld definiert die Kriterien von gelungener Existenz.
Unsere Sozialisation heute funktioniert dadurch, dass man in Gesprächen stets eine Antwort bereit haben muss. Durch die Massenmedien haben wir gelernt, dass keine Meinung zu haben uns als tumbe Einfaltspinsel entlarvt. Beim Gespräch auf der Türschwelle rezitiert man deshalb im Zweifelsfall die Headline oder den Tweet, den man gehört hat, ohne dass man bei dem Thema überhaupt irgendetwas Hintergründiges versteht. Findet man sich in einer Gruppe wieder, die gerade über etwas aktuelles diskutiert, von dem man selber keine Ahnung hat, dann fragt man nicht vor allen anderen worum es geht. Lieber wendet man sich im passenden Moment unauffällig ab und googelt nach.
Trotz der grenzenlosen Zurschaustellung, die man heute im Netz betreibt, kann man sagen, dass wir uns zunehmend selbst zensieren. Bei Social Media geht es nicht darum zu zeigen wer man ist, sondern was man nicht ist: langweilig, traurig, depressiv, uninformiert, ahnungslos. Einfach nur ein Mensch, der Bammel vor der Zukunft hat, der Selbstzweifel hat. Schuld daran ist unsere angebliche Leistungsgesellschaft. Es ist nicht nur so, dass wirtschaftlich erfolgreich sein das Mass aller Dinge ist, sondern dass die Gegenseite gar nicht thematisiert wird. Erfolg wird glorifiziert, Scheitern wird tabuisiert. Diese Entwicklung sieht man am deutlichsten beim Umgang mit Obdachlosen und Bettlern. Diese stehen sinnbildlich für das Scheitern in unserer Gesellschaft. Die meisten Leute vermeiden sorgsam den Umgang mit diesen Menschen. Man geht ihnen aus dem Weg, will ihnen nicht antworten oder auch nur ins Gesicht sehen. Sie erinnern uns unterbewusst an unsere eigene Angst, von unserem Umfeld nicht mehr ernst genommen zu werden.
Währenddessen skizziert die gigantisch gewachsene Medienindustrie den erfolgreichen Menschen von heute. Dieser ist zufrieden, weil er sich selbst verwirklicht. Der Erfolg hat dabei ganz klare Raster. Er wird durch Materialismus definiert. Die zunehmende Vermittlung von diesem vorbildhaften und erfülltem Leben, vergrößert das Feld von all jenen Lebensgestaltungen, die nicht mehr als erstebenswert gelten. Der Druck auf das Individuum durch gesellschaftliche Trends, die zu Normen werden, wird grösser. Das Paradoxon besteht darin, dass Selbstverwirklichung angepriesen wird, gleichzeitig die Menschen aber Angst davor haben neue Dinge auszuprobieren. Neue Dinge, also andere Lebensmodelle, andere Definitionen von Glück, bedeuten das Wagnis einzugehen, dass man dadurch den Halt in der alten Struktur verliert. Die Gefahr, dass man gegen die Wand fährt ist gross. Also versucht man eher die vorgegeben Ideale des Erfolges zu reproduzieren. Das eigene Selbstverständnis gerät in Schieflage. Die Menschen werden zunehmend zu reagierenden Wesen. Erfolg und Erfüllung wird nicht mehr für sich neu entdeckt, sondern kopiert. Wir definieren uns durch die Außenwelt. Algorithmen, die uns immer das nächste Empfehlen, erledigen das Übrige.
Vieles davon sieht man in der Freizeitkultur. Man verreist nur noch an Orte, die man zuvor im Internet auf dutzenden Fotos ausspioniert hat. Der Aufenthalt an einem Zielort ist lediglich die Umsetzung einer vorgefertigten Vorstellung. Das Endstadium dieser Logik haben wir erreicht in Gestalt der Leute, die zu tausenden die Fotos von Influencern an den jeweiligen Schauplätzen nachstellen. Werbeslogans wie been there done that charakterisieren diese Auffassung von Erfüllung und Lebenswert. Reaktion auf Idealtypen wird zur einzigen Erfolgsmethode.
Nicht umhin aber merken viele, dass irgendetwas in ihrem Leben nicht stimmt. Wir leben in einer Zeit, in der alle sich damit brüsten wollen anders zu sein als der Mainstream. In Wahrheit hatten die Menschen noch nie dermaßen Angst, anders zu sein. Vieles brodelt unter dem Deckel. Hinzu kommt, dass das Erfolgsmodell, das auf Materialismus beruht, zunehmend in Frage gestellt wird. Dieser Entwicklung müssen wir in Zukunft begegnen. Sie wird bei vielen ein Loch hinterlassen.
Was wir brauchen, sind Freunde, die uns zuhören und uns verstehen. Erschreckenderweise zeigen Studien, dass eben dies ein rückläufiger Trend ist. Vor allem Männer in unseren Gesellschaften haben durchschnittlich weniger echte Freunde, mit denen man über die Probleme reden kann, als vor einigen Jahren. In einer Zeit, wo unsere Lebensweise zunehmend in Frage gestellt werden wird, brauchen wir den emotionalen Austausch mehr denn je. Der Halt im Leben, den man im Zweifelsfall durch Materialismus definieren konnte, wird wegbrechen. Definitionen von Glück werden diversifiziert werden müssen. Auf diese Wandlung müssen wir gewappnet sein. Als agierende bewusste Wesen, nicht als reagierende Imitatoren.
September 2021