Kriegsersatz Fussball
Von fern sind sie schon zu hören, die Schlachtgesänge und die Pfiffe, das Poltern und das Raunen. Eine frische Dosis Adrenalin durchströmt wohltuend Körper und Geist, so man sich dem Zug anschließt, der zum Fussballstadion bummelt, eine Gladiatoren-Arena inmitten der Stadt. Das Kollektiv-Gefühl packt sogar mich, den Einzelgänger. Wir berauschen uns an unserer eigenen Grösse, unserer Lautstärke, unseren einheitlichen Farben, unserer Macht. Wir sind eins. Der geeinte Volkskörper mit einer Mission, der seinem Schicksal entgegenschreitet. Heute bekennt man Flagge, heute haben wir eine Identität, heute steht etwas auf dem Spiel. Denn wir sind hier nicht allein. Am anderen Ende der Arena ragen die Ränge des Gegners hoch. Da drüben sind sie, diejenigen, die nicht zu uns gehören. Die hier nur eingelassen werden, um von uns vorgeführt zu werden. Auf unserem Boden. Der Kessel brodelt. Der Feind ist bekannt, der Tag hat Struktur.
In praktisch jeder europäischen Stadt, ob gross oder klein, gibt es einen Verein mit eigenen Fans, eigenen Gesängen, eigenen Farben, einer Identifikation. Sport ist ein friedliches Kräftemessen. Dennoch gehören harte Gesänge, Pfiffe, ein allgemein streitbares Gebaren von leidenschaftlichen Anhängern, dazu. Fussball in Europa ist mehr als nur ein Sport. Im Verlauf der Jahrzehnte hat die Gemeinschaftsform des Vereins andere Zugehörigkeitsmodelle teilweise schleichend abgelöst. Fussball ist Religion, Vereine sind Nationen, Mitglieder sind Anhänger. Die Gemeinschaft, die sich um ein Symbol schart, findet hier eine gemeinsame Identität, deren Ehre es zu verteidigen gilt. Manche finden hier sogar ein Gefäss für nicht mehr ausgelebte männliche Aggression. Sportarten wie Boxen, Mann gegen Mann, mögen dabei noch mehr den Charakter eines realen Kampfes haben. Doch beim Fussball gibt es eben den Komponenten der Mannschaft, die auf weitem Felde gegen eine fremde Truppe antritt. Man ist hier, um ein Duell auszutragen. Wir gegen die anderen. Das Spielfeld ist ein Schlachtfeld, die Mannschaften organisierte Armeen. Und wir, die uns hier tummeln, wir halten die Heimatfront aufrecht und somit die Moral.
Seit wir in Europa keine Kriege mehr führen, jedenfalls nicht mehr im Ausmass des letzten Jahrhunderts, haben wir damit auch ein gewisses Ventil für martialisches Draufgängertum und Kampfessalm eingebüsst. Etwas, das man nicht vermissen sollte. Die Gewalt, welche Millionen in den Tod gerissen hatte wurde durch den zivilisatorischen Fortschritt eingedämmt. Wo kann man sie denn heutzutage noch ausleben? Zugehörigkeit zu einem Land, einer Kultur, ist eben manchmal nicht genug. Manche brauchen anscheinend einen Ort im Leben, wo radikales Freund-Feind-Denken gepflegt, wo der physische Streit ausgelebt werden kann. Manche tun das auf Demonstrationen wie dem Ersten Mai, andere suchen sich ihre Schlägereien vor den Großstädter Nachtclubs. Wieder andere stellen sich in den Rängen zuvorderst hin und skandieren den Sieg über den Gegner, der unzweifelhaft des Schlechten ist. Radikalere suchen abseits vom Spielfeld die körperliche Auseinandersetzung mit dem Gegner, beziehungsweise dem Feind. Die Hintergründe der Rivalitäten sind dabei meistens so unklar wie irrelevant. Schliesst man sich dem FC Winterthur an, lernt man schnell, dass der FC Schaffhausen scheisse ist. Es geht nicht um die Frage, was sie uns denn genau getan haben oder woher die Abneigung kommt. Nein. Sie sind halt einfach scheisse, woran es überhaupt keinen Zweifel gibt. Scheiss Schaffhuuse! Das zu hinterfragen macht keinen Sinn.
Oft, wenn ich meine Theorie zum Kriegsersatz Fussball äussere, gibt es Irritation. Fussball kann doch nicht mit Krieg verglichen werden. Da sterben ja keine Menschen. Es ist doch Sport und nicht Krieg. Es geht nicht darum, dass jemand stirbt. Es geht um das Kräftemessen und das Triumphieren über einen Gegner als Kollektiv, begleitet von chauvinistischen Gesängen und Überlegenheitsgefühlen. Am Ende steht Sieg oder Niederlage, vielleicht sogar ein Patt. Die Gemeinschaft und der Erfolg des Vereins ist das Wichtigste. Angesichts einheitlicher Farben, lautstarken Sprechchören und wehender Fahnen fühlt man sich manchmal sogar an totalitäre Systeme oder gar den Faschismus erinnert.
Bummelt man nach hause, so bahnt man sich erstmals seinen Weg durch ein riesiges Aufgebot schwer gerüsteter Polizisten. Auch wenn die meisten Spiele heutzutage nach Abpfiff kein grosses Spektakel mehr bieten, so kommen Schlägereieren und vor allem Sachbeschädigung andauernd vor. Der Weg zum Bahnhof ist gesäumt von frischen Schmierereien. Einzelfälle wie das Stürmen des Spielfeldes durch vermummte Anhänger, die dann Feuerwerkskörper in die Zuschauerränge schmeissen, kommen vor, so auch letzten Monat in meiner eigenen Stadt. Solch unschöne Szenen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir heute in weitestgehend gewaltfreien Gesellschaften leben. Wie schön, dass wir die kriegerischen Zeiten des letzten Jahrhunderts hinter uns gelassen haben. Martialisches Draufgängertum ist nicht mehr mehrheitstauglich. Ich jedenfalls bin froh, dass wir wahr ausgelebte Aggression auf der Strasse heute bei Kämpfen zwischen Gemeinschaften beobachten dürfen, die ihre Identität einem Fussballverein verschreiben und nicht mehr Nation oder gar Rasse. Sport ist spielerische Konkurrenz, Fussball eine zivilisierte gewaltfreie Variante von Krieg. Freuen wir uns also auf die Europameisterschaft in wenigen Wochen, wo die ganze Welt wieder ihre Nationalfahnen auf fremdem Boden schwenken darf ohne dass dabei zu den Waffen gegriffen werden muss.
Mai 2024