Generationengerechtigkeit
Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut. Der Schlachtruf von Fridays for Future richtete sich ganz klar an eine ältere Generation. Der Protest hallte durch die ganze Welt. Zwar brachte er nicht die politische und gesellschaftliche Revolution, doch löste er viele Auseinandersetzungen mit unserer ökologischen Situation aus und führte zu einer erweiterten politischen Agenda. Auch bei anderen gesellschaftlichen Themen wie Gleichberechtigung der Geschlechter oder der Bekämpfung von Rassismus bekamen die Protestierenden in den letzten Jahren zunehmend gesellschaftlichen Rückenwind. Nun geht es darum, diese Energie zu nutzen. Doch die Politik unter Druck zu setzen ist das eine Feld. Das andere ist immer die Gestaltung der zukünftigen Generation.
Bewegungen der letzten Jahre sind im Kern Proteste. Das heißt, sie verstehen sich als Rebellion gegen etwas. Sie stellen ein bisheriges Modell in Frage. Die Energie bei diesen Aufmärschen ist stets kämpferisch. Die Fronten sind klar verteilt. Gut und Böse steht sich gegenüber. Viele haben das Bild eines Ancien Regime vor Augen, dessen Sturz man herbeiführen muss. #metoo war ein reiner Rachefeldzug gegen eine männliche Machtriege, die öffentlich eliminiert werden musste. Fridays for Future begann als generationeller Protest an einer alten Politikerklasse, die allein dafür verantwortlich sein sollte, dass die Zukunft junger Menschen mit Füssen getreten wurde. Unsere Interpretation für Missstände in der Welt funktioniert dadurch, dass wir als erstes einen Schuldigen ausmachen wollen. Feindbilder helfen der Orientierung für unseren Widerstand.
Entscheidend dabei ist die Perspektive auf die Zukunft. Beim Beispiel von Fridays for Future geht es darum, dass junge Leute beklagen, dass ihnen das Recht auf einen bestimmten Lebensstil genommen wird. Die Freiheiten, die eine ältere Generation geniessen durfte, beliebig zu verreisen oder bedenkenlos Produkte zu konsumieren, werden von der jungen Generation nach wie vor als erstrebenswerter Standard angesehen. Man hält es für ein Recht, das allen zusteht, und muss durchsetzen, dass dieses Recht auch in Zukunft besteht. Der Referenzrahmen für die Zukunft wird also stark von der Gegenwart beeinflusst. Gerechtigkeit wird immer so verstanden, dass allen die gleichen Möglichkeiten zustehen.
Im Kern geht es aber darum, dass wir die nächste Generation anders erziehen. Echte gesellschaftliche Veränderung findet nur dann statt, wenn eine neue Perspektive entwickelt werden kann. In einer idealen Zukunft werden unsere Kinder gar nicht erst das Bedürfnis haben, derart umweltschädigend zu leben wie wir. Es wird als selbstverständlich gelten, dass man in einem ausbalancierten Verhältnis zu seiner Umwelt existiert. Dass wir uns erst am Anfang eines kulturellen Umbruchs befinden, sieht man auch daran welche Begrifflichkeiten wir benutzen. Man redet über Verzicht. Dass man weniger konsumieren könnte kommt den meisten als eine Art Aufopferung vor und noch nicht als neue erstrebenswerte Norm.
Die Entwicklungen erkennt man nur über längere Zeiträume. Beispielsweise besteht ein großer Unterschied von unserer Gesellschaft zu der der fünfziger und sechziger Jahre. Die prüde Sexualmoral der bürgerlichen Schicht von damals hat sich weitestgehend aufgelöst. Damals hat generationeller Protest in Form einer Jugendbewegung den Ausschlag gegeben. Sie hat zwar nicht die Gesellschaft von heute auf morgen revolutioniert, aber viele Kriterien unseres heutigen Zusammenlebens etabliert. Genauso wird es einer Gesellschaft in vierzig Jahren ergehen, die ein ökologisches Verhalten praktiziert, das sie gar nicht mehr in Frage stellen wird. Dasselbe gilt auch für andere Probleme wie zum Beispiel das Patriarchat und Männer, die Frauen misshandeln. Es geht bei diesen Entwicklungen darum, dass es die gesellschaftlichen Strukturen, die diese Art von Männern erzeugen. Wenn wir Veränderung wollen müssen wir vorne ansetzen.
Man muss versuchen die neue Generation zu formen und sie mit besserem Wissen anders erziehen. Diese Gestaltungsräume müssen wir wahrnehmen anstatt ständig versuchen, mit einer älteren Generation abzurechnen. Generationengerechtigkeit könnte also auch bedeuten, dass wir uns dafür einsetzen, dass wir und unsere Kinder, mit unseren unterschiedlichen Kriterien des Lebensstils, trotzdem dieselbe Erfüllung genießen können.
August 2021