Von der Freiheit
Wir befinden uns in einem Epochenbruch. Überall schreit man uns an, dass wir mit grossen Problemen zu kämpfen haben wie dem Klimawandel, des Artensterbens, der sozialen Ungerechtigkeit und so weiter. Doch dies sind alles Folgen und Symptome eines größeren Problems. Ich glaube, wir haben kein zeitgemäßen Verständnis von Freiheit mehr.
Alles beginnt damit, wie wir Geschichten über uns erzählen. Geschichten sind die stärkste Kommunikationsform von Mensch zu Mensch. Emotional werden wir nur durch Geschichten bewegt. Wir verstehen uns selbst im Rahmen von Geschichten, die wir erleben, die wir über uns selbst erzählen oder die andere über uns erzählen. Unser Leben ist eine Sammlung von Ereignissen und damit Erfahrungen, aus denen wir jeweils unser Selbstverständnis und unsere Moral bilden. Nun werden in unseren westlichen Gesellschaften Geschichten geradezu mit gigantischem ökonomischem Aufwand erzählt und in tausend weiteren Formen reproduziert. Filme, Musik und so weiter. Unsere Moral wird stark durch die Unterhaltungsindustrie beeinflusst. In Hollywood-Filmen geht es meistens um zwei Dinge: Liebe und Freiheit. Helden müssen die Liebe finden oder die Freiheit erkämpfen, meistens beides zugleich. Freiheit wollen immer die Guten. Unfreiheit und Herrschaft über andere ist das Werk des Bösen. Die Geschichte, die über die Freiheit erzählt wird ist immer die Gleiche. Es ist etwas, dass gegen die Ungerechtigkeit erkämpft werden muss. Das Spektrum des Guten in unseren Geschichten erstreckt sich über alles was mit individueller Freiheit zu tun hat.
Weltgeschichtlich ist dies zunächst eine erfreuliche Entwicklung. Zu jeder Zeit war die Geschichte des Menschen immer eine Geschichte der Machtkämpfe. Seit wir miteinander Gemeinschaften mit kollektiven Interessen bilden, ging es immer um Macht und somit im Gegenzug um Freiheit. Der Kampf um die eigenen Rechte ist ein großer Kraftakt, der sich durch die gesamte Weltgeschichte zieht und von vielen Bevölkerungsgruppen getragen wurde. Die Freiheit des Individuums und das Finden der eigenen Stimme sind das Erbe der Moderne. Es sind gewaltige Errungenschaften.
Doch nun erleben wir, dass Freiheit plötzlich ein Begriff wird, der wieder neu diskutiert werden muss. Das Wissen darum, dass enorm viele Probleme in der Welt dadurch entstehen, dass wir bedenkenlos konsumieren, wirft ein neues Licht auf den Freiheitsbegriff. Das meiste, was wir tun, hat Auswirkungen auf die Umwelt, das Klima, den sozialen Zusammenhalt. Freiheit war bis anhin ein Versprechen für individuelles Glück, das sich an Wohlstand definiert und somit an gesteigertem Verbrauch. Das Wort ist allerdings enorm hartnäckig positiv konnotiert. Freiheit klingt nun mal schön. Das Wort kann enorm gut eine ungerechte Situation beschönigen. Unter dem Banner Freiheit werden in aller Welt gigantische Schäden an Mensch und Umwelt angerichtet. Alle Versuche, multinationale Konzerne, die rücksichtslose Ausbeutung der Natur und die Schäden fürs Klima in Schach zu halten, werden von der liberalen Seite empört als Angriff auf Die Freiheit skandalisiert. In den USA werden viele Impulse, freiheitliche Marktwirtschaft ohne Regulierungen einzugrenzen gar als Versuche deklariert, den Sozialismus einzuführen. Im Namen der Freiheit werden außerdem viele geopolitische Kriege vom Westen geführt. Das Argument Freiheit ist eine Farce geworden.
Die Ausgangslage der westlichen Zivilisation von heute ist also, dass immer noch diese alte Geschichte von Freiheit erzählt wird. Aber in einer globalisierten Welt müssen die Menschen sich untereinander und mit der Natur arrangieren. Unsere Umwelt bildet die Grundlage für unsere Existenz. Die Freiheit des Menschen ist logischerweise beschränkt, wenn er weiterhin existieren will. Meine persönliche Freiheit hört da auf, wo ich beginne, die Freiheit anderer durch mein Verhalten einzuschränken.
Wie also kann man Freiheit auf sinnvolle Weise verstehen? Wie bei allem kommt es wohl auf die richtige Balance an. Alle bisherigen sozialen Kämpfe waren absolut notwendig, um uns überhaupt in die Lage zu bringen, über unser eigenes Leben voll und ganz bestimmen zu können. Doch es braucht eine neue Perspektive. Um dem Fortschritt zu dienen, muss ich an mir selbst arbeiten und mich selbst aus eigenen Stücken unter ein von mir selbst geschaffenes Regelsystem stellen. Das bedeutet Demokratie. Die Errungenschaft ist, dass wir individuell an uns arbeiten können und müssen. Wir wollen keine autokratischen Machtsysteme mehr, die uns unser Leben vorschreiben. Jeder Versuch, die Menschen unter enorme Systemregeln zu stellen, erzeugt letztendlich immer mehr Repression und Gewalt als wahrer Fortschritt. Dies ist zurecht eine vergangene Epoche, zumindest bei uns in Europa. Wir müssen dies aber wirklich erkennen und uns engagieren, damit wir als freie und offene Gesellschaft uns neue Regeln geben können. Freiheit bedeutet nicht, bedenkenlos zu konsumieren, sondern demokratisch den notwendigen Wandel herbeiführen zu können. Dies ist die neue Geschichte, die wir über Die Freiheit erzählen müssen.
September 2021