Fortschritt
Vor einiger Zeit wurde in der Schweiz über das CO2-Gesetz abgestimmt. Im Vorfeld gab es die übliche PR. Diesmal wurde sie besonders radikal von der liberalen Seite geführt. Auf einem der vielen Plakate konnte man den Slogan Fortschritt statt Verbote bestaunen. Was die Initianten damit ja eigentlich sagen wollten war Technischer Fortschritt statt Verbote. Dies hätte sich allerdings etwas erbärmlich angehört.
Wie es uns also viele von den liberalen Politikern erzählen, schließen sich Fortschritt und Verbote gegenseitig aus. Die Frage ist aber, wodurch sich Fortschritt eigentlich definiert. Wir sehen uns heute gerne als fortschrittlich. Die durchschnittliche Lebensqualität in unseren westlichen Industriegesellschaften ist massiv besser geworden. Technische Geräte, Maschinen und Mechanismen haben uns immer mehr Arbeit abgenommen und uns zu immer mehr Wohlstand verholfen. Vor allem aber haben wir den enormen Fortschritt erzielt, dass wir heute in liberalen Gesellschaften leben dürfen wo die Freiheit gilt, sagen und denken zu dürfen, was wir wollen und in denen Sicherheit garantiert ist. Man mag darüber diskutieren können, wie gerecht unsere Gesellschaft ist. Aber dennoch führen die meisten von uns ein Leben, das für Menschen vor nur 100 Jahren eine radikale Utopie gewesen wäre. Beim heutigen Verständnis vom Begriff Fortschritt geht es also nicht nur um den technologischen Fortschritt, sondern auch um den zivilisatorischen Fortschritt.
Was unser heutiger Gesellschaftsentwurf und unsere Soziale Marktwirtschaft ausmacht ist, dass sie in vielerlei Hinsicht reguliert wird. Arbeitgeber haben sich an Mindestlöhne zu halten. Unternehmen werden je größer sie werden, desto mehr sanktioniert. Nationale und kulturelle Minderheiten genießen Schutz und dürfen nicht unterdrückt werden. Kinderarbeit ist abgeschafft. Vor allem ist das Machtmonopol zersplittert. Unsere modernen Staaten zeichnen sich durch die Gewaltenteilung aus. Ein schönes Bild, wie ein System von Menschen mit unterschiedlichen Interessen funktioniert, ist der Strassenverkehr, wo Ampeln einem vorschreiben was man zu tun und zu lassen hat. Regulierungen sind also mit ein Grundstein von dem, was wir als Fortschritt verstehen. Und Regulierungen ist ein milderer Ausdruck für Verbote.
Unsere liberalen Gesellschaften werden wohl noch eine ganze Menge Zeit und Energie darauf verschwenden, ob wir nur technische Lösungen oder immer grösser werdende Regulierungen für die Bekämpfung unserer Probleme brauchen. Selbstverständlich brauchen wir beides. Wir können bei der gewaltigen Herausforderung, uns zu einem nachhaltigen Wirtschaftssystem zu entwickeln, weder das eine, noch das andere außer Acht lassen. Wir sollten uns aber letzten Endes immer im Klaren bleiben, dass es sich bei dem Problem, über das wir sprechen, um ein soziales Problem handelt. Und eine Gesellschaft, die fähig ist auch über mehrere Generationen hinweg die Freiheiten die wir haben zu gewährleisten, funktioniert nur dann, wenn die Mitglieder aufeinander Rücksicht nehmen. Und damit wären auf politischer Ebene wieder bei den Verboten. Oder mit anderen Worten: beim Fortschritt.
November 2021