Entmündigung statt Einbezug
Vor einigen Jahren gab es in einem Musikclub in Winterthur ein Konzert einer populären Band, die ihr neues Album taufte. Die Musiker standen dabei allerdings nicht allein auf der Bühne. Zusätzlich zur Band wurde ein Trio von Tänzerinnen aus Brasilien engagiert. Die drei Frauen tourten zu der Zeit gerade durch Europa und traten an verschiedenen Konzerten als Supporting Act auf, also als eine ergänzende Showeinlage. Die drei wohlproportionierten Brasilianerinnen, wie man sich gut vorstellen kann, leicht bekleidet in glitzernde bauchfreie Gewänder, gaben zur Livemusik eine sexy Tanzeinlage zum besten, was wunderbar mit der wilden partytauglichen Musik harmonierte. In den folgenden Tagen trafen beim Veranstalter wütende Emails von Leuten ein, die sich über den Event beschwerten. Dabei wurde heftig kritisiert, dass die drei Frauen als sexualisierte Lustobjekte für Männer bloßgestellt wurden. Der Musikklub hätte einen Event veranstaltet, der das Stereotyp der halbnackten tanzenden Frau als Sexobjekt reproduziere. Diese Mails und die Vorwürfe waren an den Veranstalter gerichtet, nicht an die Tänzerinnen selbst. Es ist fraglich, ob diese überhaupt je von den Beschwerden hörten. Und falls ja, wie hätten sie wohl reagiert? Sie, die nach Meinung der Kritiker offenbar willens - und wehrlos dem geiferndem Publikum vorgeführt worden waren.
Neulich hat mich auch der Fall einer OnlyFans-Creatorin nachdenklich gestimmt. Ob Frauen, die auf OnlyFans eine Menge Kohle an notgeilen Männern verdienen, etwas mit Feminismus zu tun haben, ist eine andere Debatte. Jedenfalls hat sich die junge Creatorin Lily Philips etwas neues einfallen lassen, was sie ihren männlichen "Fans" zum Frass vorwerfen kann. Lily Philips nahm sich die Challenge vor, an einem einzigen Tag, in vierundzwanzig Stunden, mit hundert verschiedenen Männern zu schlafen. Das Ganze wurde natürlich gefilmt und verkauft. Das Selbstexperiment stieß auf große Aufregung und sofort taten sehr viele Leute online ihr Entsetzen kund. Stimmen wurden laut, die forderten, alle Männer, die an dem Experiment beteiligt gewesen seien, sofort einzusperren. Diese Männer hätten Philips misshandelt und ausgenutzt. Philips sei eine junge verletzliche Frau mit geringer Selbstbestimmung, die von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräften in diese Situation getrieben wurde. Die Aktion war widerwärtig und es müße für alle beteiligten Männer Konsequenzen haben. Nicht aber für Philips. Diese kündigte im Übrigen an, als nächstes die Challenge zu wagen, mit tausend Männern in vierundzwanzig Stunden Sex zu haben.
Was sagen uns diese Geschichten? In beiden Fallen geht es darum, dass andere Leute mit der Tätigkeit einer oder mehrerer Frauen nicht zufrieden sind, diese sogar verleumden. Dass Frauen sich halbnackt auf Bühnen geben oder wie Prostituierte mit unzähligen Männern schlafen, seien Tätigkeiten, die die Frau auf ein Sexobjekt reduzieren, das nur zur männlichen Belustigung existiert. In beiden Fällen sind dafür aber nicht die Frauen, die das alles tun, verantwortlich, sondern andere Personen, in der Regel Männer. Gewinnorientierte Konzertveranstalter und notgeile Lusthähne gliedern sich in die lange Reihe von Systemgewinner ein, die über den Willen der Frau herrschen und sie zur Sexarbeit erziehen. Bei Kritiken wie diesen, muss man unweigerlich feststellen, dass die Möglichkeit, dass Frauen in diesen Situationen selbstständig denken und handeln können, gar nicht mehr in Betracht gezogen wird. In dem Versuch, sie schützen zu wollen, nimmt man sie als autonome Subjekte nicht mehr ernst, sondern behauptet, sie werden gezwungen oder sind nicht zurechnungsfähig. Und sie werden dann auch gar nicht mehr adressiert. Im Falle des Tänzerinnen-Trios wurde über die Köpfe dieser Frauen hinweg der Musikclub kritisiert für die Show, die die Brasilianerinnen nach der Logik auch nicht freiwillig gemacht hätten. Die Tatsache, dass diese allesamt mündigen und geistesgesunden Frauen sich bewusst für eine Karriere als Tänzerinnen entschieden haben, spielt dabei keine Rolle. Dem Klang nach wäre das Trio aus Brasilien Sexsklaven, die im Keller des Klubs eingesperrt würden, um ab und an auf die Bühne gelassen zu werden, wo sie zur Belustigung des geifernden Publikums mit ihren Brüsten wackeln sollen. Auch bei Lily Philips waren viele Reaktionen von Feminist*innen ähnlich. Schuld an dieser verstörenden Orgie seien die Männer, die Philips' Angebot schamlos ausnutzten. Und es stimmt auch, dass diese Männer Philips ausgenutzt haben, ebenso wie sie ihrerseits von Lily Philips ausgenutzt wurden, um pornografischen Content zu kreieren. Doch auch wenn man Frauen wie Philips eigenständiges Handeln zugesteht, so seien es eben gesellschaftliche Kräfte, Normen und Erwartungen, die die Frauen subtil und unterbewusst in das Bedürfnis drängen, den Männern gefallen zu wollen, ihnen etwas vorzutanzen oder mit ihnen Sex zu haben, sei es auch nur für mehr Views und mehr Geld. Diese gesellschaftlichen Kräfte sind dann wahlweise die Männer, die Gesellschaft, das Patriarchat oder gleich das ganze System.
Lernen sollten wir auf jeden Fall, dass wir uns ehrlich machen, wenn uns ein bestimmter Umstand nicht gefällt und uns klarzumachen, welche gegensätzlichen Kräfte mitwirken. Der eigentliche Knackpunkt liegt darin, dass man beginnen muss, alle Akteurinnen und Akteure, die ein bestimmtes System festigen und aufrecht erhalten, zu benennen und zu kritisieren. Sagt man, die Verantwortung liegt nur bei den Männern, erstellt man ein unvollständiges Bild, wie die Gesellschaft funktioniert. Man sagt, dass Frauen wie Lily Philips gar nicht entscheiden können, was gut für sie ist, weil sie nicht zurechnungsfähig sind und nicht verstehen, was mit ihnen geschieht. Wenn solche Frauen sagen, dass sie das aber aus freien Stücken tun, sagt man, die Gesellschaft habe sie so geformt. Sie wurden erzogen, dass sie den Männern auf die eine oder andere Art gefallen müssen und dadurch Bestätigung und Anerkennung erhalten. Mit anderen Worten: Die Leute, die sich über die Tanzshow beschwehrten, hätten diesen Tänzerinnen Mails schreiben müssen und sie dafür kritisieren, dass sie mit der Ausübung ihrer Tätigkeit das sexualisierte Stereotyp der sexy tanzenden Frau befeuern und damit der gesamten Frauenschaft schaden. Doch statt diese Frauen damit zu konfrontieren, beschuldigt man über deren Köpfe hinweg andere Personen und stellt die Frauen als machtlos und unwissend dar, so als seien sie Kinder. Man entmündigt sie. Und dies ist das Gegenteil von Empowerment. My Body, my choice! scheint nur so lange zu gelten, solange damit nicht Dienste verrichtet werden, die als problematisch erachtet werden. Auf der anderen Seite werden Frauen, die vermeintlich gegen den Strom schwimmen, bejubelt. Man kann also feststellen, dass die Entscheidungen von Frauen, die einem gefallen, als autonome mutige Entscheidungen bewertet werden und solche, die einem nicht gefallen, nicht mal als selbstbestimmt gelten. Doch es braucht die Debatte und den Konflikt auch unter Frauen, die darüber sprechen müssen, wie manche unter ihnen selbst Mitverantwortung tragen, dass sich gewisse sexualisierte Stereotype hartnäckig in den Köpfen halten.
Lily Philips hat mit ihrer verstörenden Sexorgie hunderttausende Dollar kassiert und wohl für die nächsten paar Jahre ausgesorgt. Sie ist weder dumm noch unzurechnungsfähig. Vermutlich ist sie einfach jemand, dem es vollkommen egal ist, was die Leute über sie denken und was sie mit ihren Aktionen anrichtet. Vielleicht hat sie keine Sekunde daran gedacht, dass manch andere junge Frau sich an ihr ein Vorbild nehmen wird, weil sie sehen, dass man auf diese Weise easy und schnell reich werden kann. Jedenfalls ist Philips erwachsen und für ihre Sex-Eskapaden und fragwürdigen Geschäftsideen selber verantwortlich. Frauen wie sie als willensschwache Mädchen zu entmündigen, verkennt nicht nur die Realität, sondern entzieht einer produktiven Diskussion über gesellschaftliche Akzeptanz von solchen Orgien jede Grundlage.
Dezember 2024