top of page

Ein Schwerer Kahn

Ein gigantischer Frachter steckt im Frühjahr 2021 für sechs Tage im Suezkanal fest. Was einerseits die Weltwirtschaft 59 Milliarden US-Dollar kostete, löste andererseits auch großes Amüsement aus. Uns wurde in Erinnerung gerufen, welch absurde Größe diese Ozeanriesen mittlerweile erreicht haben. Eine schwimmende Festung, bis über den Rand hinaus vollgestopft mit dem ganzen Produkt-Wust, den die Konsumgesellschaften von heute für ihre erfüllte Existenz benötigen. Das Schiff kam weder vor noch zurück und musste regelrecht ausgegraben werden. Der vor hundert Jahren erbaute Kanal ist viel zu klein, um von solch kolossalen Klötzen passiert zu werden. Diese Dinger sind so enorm, dass nur ein kleines Manöver unendlich lange braucht.

 

Diese Trägheit erinnert stark an uns selbst. Ist man auch voll von erfinderischen und streberhaften Geist, so geht es doch manchmal seltsam lange, gar Jahre, bis man sich tatsächlich vom Fleck bewegt. Nicht nur mit uns Individuen, sondern vor allem mit uns als Gesellschaft. Irgendwie hat man als politisch partizipierender Mensch den Eindruck, das ganze Ding, die Politik, die Regierung, unser Land lässt sich gar nicht wirklich beeinflussen. Hie und da gibt es vereinzelt Impulse und ab und zu auch mal ganz neue Töne, doch letztendlich trottet der ganze Laden weiter wie bisher. Echte systemische Veränderungen gibt es nicht. Es gibt zwar Bestrebungen, doch in unserer heutigen Medienindustrie wird man als Politiker sofort medial geschlachtet, kommt man mit einer neuen revolutionären Idee um die Ecke. Im besten Fall heisst es, man werde darüber nachdenken. Doch meistens sitzt man dann vielleicht in irgendeiner Talkshow, hat alle anderen gegen sich, die Idee wird argumentativ zerfleischt und am Ende steht der Satz Wer soll das bezahlen? Unser ganzer wirtschaftlicher Betrieb, verflochten mit der Politik, ist in so in einem Masse bedingungslos auf das Wachstum programmiert, dass andere Ideen, die das Wachstum in Frage stellen, als Störenfriede wahrgenommen werden und gar nicht überhaupt auf der gleichen argumentativen Ebene verortet werden können. Man spricht von den vermachteten Strukturen in Politik und Wirtschaft, die mittlerweile überhaupt nicht mehr von außen veränderbar sind.

 

Gleichzeitig aber ist dieses demokratische System wie auch der Suez-Superfrachter unglaublich stabil. Es gibt wohl kein vergleichbares Land wie die Schweiz im Punkt Stabilität. Der Grund ist, dass wenn Macht so großzügig auf alle Bürger verteilt ist, gibt es auch weniger politische Alleingänge. Es gibt ein Zugriffs-Gedränge. Jeder nimmt Einfluss. Aber dadurch, dass die Macht bis auf die untersten Ebenen so gleichmäßig verteilt ist, blockiert man sich dann wieder gegenseitig. Demokratie ist zwar ein gerechtes System, jedoch auch unglaublich schwerfällig und wie jedes kapitalistische System anfällig für Korruption. Dies macht den ganzen Laden noch langsamer. Unser System ist ein schwerer Kahn, der für jede neue Ausrichtung unglaublich lange braucht. Erweist sich diese Schwerfälligkeit deswegen als Sackgasse? Ist unsere Demokratie den gewaltigen Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts gewachsen? Es ist äußerst wahrscheinlich, dass wir in diesem Jahrhundert wieder eine Tendenz in Richtung Autokratie haben werden. Wie genau die aussehen wird, bleibt aber Spekulation.

Mai 2021

bottom of page