Die Leugnung der Freiheit
Neulich sass ich mit einer Freundin im Café. Sie beschwerte sich über den Druck, sich als Frau stets rasiert haben zu müssen. Warum sollten Achselhaare, etwas Natürliches, bei Frauen nicht ok sein? Das ist absurd und dieses Ideal von Weiblichkeit ist Produkt einer patriarchen Gesellschaft. Das Schönheitsideal von Frauen werde von Männern auf die Frauen projiziert. Ohne das Patriarchat, für das schließlich die Männer verantwortlich sind, würde es dieses Problem nicht geben. Die Verantwortung für einen Wandel zum Besseren liege also bei den Männern, nicht bei den Frauen. Männer müssen ihre Vorstellung von weiblicher Stereotypie hinterfragen. Frauen könnten nicht einfach damit beginnen, sich unrasiert zu zeigen, sonst werden sie verurteilt.
Wie frei sind wir eigentlich? Haben wir die Wahl so zu leben, wie wir es uns wünschen? Haben wir unser eigenes Schicksal in der Hand? Oder liegt es nicht doch an der Gesellschaft, die einen daran hindert, sich frei zu entfalten? Viel ist davon die Rede, wir stünden unter zahlreichen gesellschaftlichen Zwängen. Kulturpolitische Debatten nehmen den öffentlichen Raum ein. Die einen haben das Gefühl, man wolle ihnen Gender-Sprache vorschreiben, andere, dass man unterdrückt werde vom Patriarchat.
Interessant dabei finde ich, auch beim Beispiel mit dem Rasieren, die Formulierung mit dem Wort dürfen. Wir Frauen dürfen uns nicht unrasiert zeigen, beziehungsweise wir müssen uns rasieren. Wir müssen dem Schönheitsideal entsprechen. Dürfen und Müssen sind Satzkonstruktionen, die der Realität der Freiheit, die wir eigentlich geniessen, widersprechen. Sie beschreiben einen Zwang, den es gesellschaftlich sicherlich gibt, gesetzlich aber überhaupt nicht. Das ist aber ein großer Unterschied, wenn man argumentieren will, wo die Macht zur Veränderung liegt. Dass man dem Übel machtlos gegenübersteht, ist ein Narrativ, das in der Demokratie von allen Seiten angewendet wird. Von Konservativen kommt oft die Klage, wir würden von der ausufernden Wokeness terrorisiert. Denk - und Sagverbote würden uns ständig diktiert, ohne dass man dagegen was sagen darf. Auch der Terminus Verbot bedient sich dieser Rhetorik. Das darf man ja heutzutage nicht mehr sagen!, ist so ein typischer Spruch.
Auch bei vermeintlich heikleren Themen als Kulturdebatten über Sprache, wird oft die eigene Machtlosigkeit und der Zwang, unter dem man steht, hervorgehoben. Deutlich tritt das in den letzten Jahren beim Thema Meinungsfreiheit auf. Beispielsweise gab es während der Corona-Pandemie von vielen Leuten, die man zurecht Schwurbler nennen kann, die Auffassung, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt. Auch bei anderen Themen wird das Verbot der Meinungsfreiheit heute von vielen als Argument ins Feld geführt. Dabei gibt es ein grundsätzliches Missverständnis: Die Angriffe auf eine Meinung werden interpretiert als Angriff auf die Meinungsfreiheit. Dies trifft natürlich absolut nicht zu. Wenn man in einer Demokratie lebt, ist Meinungsfreiheit gewährt. Dazu gehört aber auch die Konfrontation mit anderen Meinungen, der man sich möglicherweise aussetzen muss. Jegliche Meinung muss in der Meinungsfreiheit auch anfechtbar sein, sonst gäbe es diese Freiheit ja gar nicht.
Wir haben also auf vielen unterschiedlichen Seiten die Behauptung, wir würden in unserer Freiheit eingeschränkt, wir stünden unter Zwängen, denen wir machtlos ausgesetzt sind. Wie passt das zusammen mit der Tatsache, dass wir heute in der freiesten Gesellschaft unter der freiheitlichsten Verfassung leben, die es je gab? Überhaupt nicht. Was kann denn der Grund sein, warum wir diese vehementen Behauptungen haben? Warum reden wir uns ein, etwas nicht zu dürfen, obwohl wir die Freiheit dazu haben? Weil es anstrengend ist und uns etwas abverlangt. Gegen gesellschaftlichen Druck, seine Meinung oder sein Verhalten verteidigen zu müssen, ist nunmal nicht einfach. Man muss argumentieren können. Man muss Ablehnung oder gar Abneigung aushalten können. Es bedeutet auch, dass Freiheit anstrengend sein kann. Viele sind eben entweder dazu nicht bereit oder sie sind zu faul. Viel bequemer ist es da, Patriarchat oder Diktatur zu schreien. Auf der Gegenseite stehen auf jeden Fall Gegner, die einen in Schach halten.
Beim Beispiel mit dem Rasieren fordern manche Frauen, dass zuerst ein Umdenken bei den Männern stattfinden müsse und diese unrasierte Frauen zuerst akzeptieren müssen, bevor sich die Frauen selber rasieren. So funktioniert gesellschaftlicher Wandel aber leider nicht. Frauen müssen vorangehen, dies tun und auch für andere Frauen vorleben. Denkt man an all die Prozesse in der Vergangenheit, wo sich Gesellschaft in Bezug auf ihre Werte, Normen, Sitten, Moralvorstellungen verändert hat, so sieht man, dass dies immer zuerst avantgardistische Bewegungen waren, die erst von einer Minderheit ausgingen. Die 68er Generation oder die Hippie-Bewegung bestand aus den Kindern einer Generation, die die Lebensweise und Weltanschauung der Eltern in Frage stellten. Sie lehnten die sittenhafte Gesellschaft, die prüde Sexualmoral, die Leistungsgesellschaft ab. Sie stießen auf Widerstand. Doch sie wollten ein anderes Leben leben. Sie taten es und gewannen Anhänger. Sie inspirierten. Sie wurden zu Vorbildern. Obwohl es zunächst eine Minderheit war, modernisierten deren Konflikte mit der alten Generation die Gesellschaft nachhaltig. Die 68er hatten keinen Erfolg damit, dass sie von ihren Eltern verlangt haben, sie sollten ihre Weltsicht ändern. Kultureller Wandel entsteht durch Vormachen und Nachahmung. Sie nutzten die Freiheit, die sie hatten.
Ich denke, es ist das Wichtigste, sich seiner eigenen Freiheit, demzufolge auch seiner eigenen Macht, bewusst zu werden. Und schließt man sich mit anderen zusammen, ist man umso stärker. In unseren Wohlstandsgesellschaften genießen wir die größtmögliche Freiheit, unser Leben so gestalten zu wollen, wie wir es wollen. Aber die Frage ist, ob wir, wenn es hart auf hart kommt, denn wirklich mit unserer Freiheit umgehen können. Sie kann uns auch überfordern. Es kann auch bequem sein, sich in seiner Machtlosigkeit zu ergehen und die Verantwortung abzugeben. Im Hinblick auf kommende Stressfaktoren, die auf uns alle einwirken werden wie zum Beispiel die Folgen des Klimawandels wird die Frage sein, ob wir unsere politische Freiheit irgendwann lieber hergeben werden zugunsten von autokratischen Systemen, die die Probleme rigoroser angehen werden als wir. Jedenfalls könnte das dann wiederum die Zeit sein, in der wir unsere Freiheit wieder zurecht einfordern werden, falls wir dann noch die Freiheit dazu haben.
Januar 2024