Der Richtige Zeitpunkt
In den letzten Jahren liest und hört man auf unseren Abstimmungsplakaten und in politischen Debatten häufig den Slogan Keine Experimente! Manchmal ist er wortwörtlich so formuliert und manchmal in anderer Form. Doch das Argument zielt immer auf die Emotion Angst ab. Man will den Leuten suggerieren, dass eine Veränderung ungeahnte und unerfreuliche Entwicklungen nach sich ziehen wird. Besser ist es, man lässt alles, so wie es ist. Denn unterm Strich ist das System erfolgreich und Versuche einer Veränderung vor der Möglichkeit, dass alles den Bach runtergehen könnte, sind nicht gerechtfertigt.
Doch wir befinden uns am Beginn eines grossen strukturellen Wandels. Die gegenwärtigen Debatten kreisen zunehmend um die Themen nachhaltige Wirtschaft und Digitale Revolution. Der Klimawandel erfordert eine völlig neue Politik. Der Sozialstaat und die Arbeitswelt werden sich durch den demografischen Wandel und die Digitalisierung völlig verändern müssen. In diesen Zeiten sind Neuorientierungen gefragt und die Fähigkeit, andere politische Entwürfe ausprobieren zu können. Unsere gegenwärtige Politik jedoch ist enorm auf die Verwaltung der Gegenwart fokussiert. Inhaltlich gibt es selten politische Zukunftsvisionen. Wenn man sich Politik-Talkshows ansieht, ist dauernd nur von Herausforderungen die Rede. Eine schier endlose Kette von aneinandergereihten Problemen bestimmen jeden Diskurs. Das mit der Rente ist schwierig, der Wirtschaftsstandort wird bedroht, das Bildungssystem ist marode, die Infrastruktur ist nicht hinreichend ausgebaut, das Internet funktioniert nicht überall, die Steuern sind ungerecht, Digitalisierung bereitet nur Kopfschmerzen, das Insektensterben, die Landwirtschaft muss reformiert werden, alles ist irgendwie scheisse geht höchstwahrscheinlich schief. In dieser pessimistischen Grundhaltung, geht jede positive Vision für die Zukunft verloren. Es gibt niemanden in irgendeiner Talkshow der eine Idee zum besten gibt, wie man sich unsere Gesellschaft anders vorstellen könnte. Stattdessen debattiert man lieber ob der Mindestlohn acht oder neun Franken betragen soll. Alles, was wir als Gesellschaft in Angriff nehmen müssen scheint nur eine Abarbeitung von Problemen zu sein. Diese Suggestion verdirbt jeden Spass an neuen Ideen. Die unheimliche Dichte an all den Problemen scheint so gross zu sein, dass man überhaupt nicht auf den Gedanken kommen will, dass man in dieser bedrohlichen Situation auch noch neue Experimente starten will.
Diese misstrauische Grundhaltung wird politisch instrumentalisiert. Mit dem oben genannten Slogan soll bei den Leuten das Unbehagen heraufbeschworen werden, dass alles den Bach runtergehen könnte, nehme man ausgerechnet jetzt diesen einen Schritt in eine ungewohnte Richtung. Es wird also eigentlich gar nicht mit etwas Handfestem argumentiert, sondern lediglich eine emotionale Reaktion stimuliert. Wenn ich sage, ich will jetzt bitte keine Experimente, dann spreche ich mich damit nicht grundsätzlich gegen Experimente aus, sondern will einfach, dass sie jetzt bitte noch nicht gemacht werden mögen. Denn es ist nun nicht der richtige Zeitpunkt. Es passt gerade nicht.
Es sollen also während unruhigen Zeiten keine Experimente betrieben werden. Wann also wäre denn der richtige Zeitpunkt? In Zeiten, wo Stabilität herrscht? Nein, auch nicht. Denn dann ist das System ja gerade so schön stabil und es gibt doch keinen Grund daran zu rütteln. Never change a winning team. Es scheint also irgendwie nie der richtige Zeitpunkt zu sein, um proaktiv neue Wege einzuleiten. Die Ironie ist, dass die unruhigen Zeiten daher rühren, dass neue Erfahrungen nie gemacht wurden. Und nun, in den unruhigen Zeiten, will man noch weniger, dass Neues ausprobiert wird, sondern so gut wie möglich die Gegenwart verwaltet wird. Und damit verringert man die Chance auf eine Transformation noch mehr. Doch die notwendige Transformation ist nur zu erreichen, wenn man auf Erfahrungsmöglichkeiten zurückgreifen kann. Um Erfahrungen zu machen ist es nie zu spät. Jederzeit ist also der richtige Zeitpunkt.
Mai 2021