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Der Nachlass

 

 

Wie oft denken Sie ernsthaft über den Sinn des Lebens nach? Einmal im Monat? Einmal im Jahr? Jeden Tag? Die delikateste aller Fragen wird auf immer unbeantwortet bleiben. Weder Wissenschaft, noch Philosophie, noch Religion wird jemals in der Lage sein, die Frage aller Fragen zu klären. Wenn wir über das Leben reden, reden wir eigentlich von einer Allegorie für Existenz. Es gibt keine Formel für die Existenz an sich. Selbst wenn alles, was physikalisch und biochemisch im Universum vor sich geht bis ins letzte Atom erforscht und codiert ist, bekommt dadurch auch nichts einen Sinn. Nur weil wir verstehen, wie etwas funktioniert, haben wir damit noch lange nicht die Frage beantwortet, warum es da ist, wozu es überhaupt existiert. Deshalb ist es genauso unsinnig zu behaupten, es gebe keinen Gott wie zu behaupten, es gebe einen. Dass es überhaupt so etwas wie Existenz gibt, wird durch keine wissenschaftliche Erkenntnis jemals untermauert werden können.

Diese Ratlosigkeit in der menschlichen Psyche ist der Ursprung von Kultur. Alles, was wir in unserer Zivilisation über die existentiellen Grundeinrichtungen hinaus gemeinsam geschaffen haben, sind Versuche, der Ungewissheit ein Stück Schönheit abzutrotzen. Über unsere Grundbedürfnisse hinaus haben wir ein Verlangen nach schönen Formen und schönen Klängen, Künste wie Musik, Filme, Architektur, Bilder und so weiter. Sie helfen uns, die Frage nach dem Sinn zu vergessen. Seit jeher haben wir ständig nach dem irdischen Paradies gestrebt. In unseren säkularen Kulturen hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass wir der denkende und fühlende Teil des Universums sind und wir die Welt zu unserem eigenen Ruhm gestalten. Unterwerfung der Natur. Materialismus gegen die eigene Bedeutungslosigkeit. Dies ist der moderne Lebensentwurf, der sich immer mehr globalisiert. Die neoliberale Marktwirtschaft trug dieses Dogma in Windeseile in alle Welt hinaus.

Doch Menschen sind soziale Wesen. Wir sind Rudeltiere. Zusammenschlüsse sind nicht nur aus der Notwendigkeit entstanden, sondern auch aus dem Bedürfnis nach Geselligkeit. Unser Gehirn schüttet Dopamin aus, sobald wir gesellschaftliche Anerkennung empfangen. Unser materialistisches Leben wollen wir zur Schau stellen. Wir wollen dafür Anerkennung, Bewunderung, machmal sogar Neid erhalten. Für jede Reise, die wir unternehmen, brauchen wir anschließend Beweismaterial in Fotos und Videos. Wir haben die ungeschriebene Pflicht, unsere besten Momente einfangen zu müssen. Sie undokumentiert verstreichen zu lassen, ist eine beklemmende Vorstellung. Darunter liegt die grundlegende Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Es ist im Endeffekt eine Vorstufe zur Existenzkrise. Geht man heute an ein durchschnittliches Konzert wird man Zeuge von moderner Massenpanik. Viele Leute gucken nicht zu, sondern lassen ihre Smartphones für sie das Konzert schauen. Das heisst im Moment des Ereignisses ist die Konservierung dieses Ereignisses wichtiger, als die eigentliche Teilnahme. Es ist wichtiger, Dokumente anzuhäufen, die uns als besonders ausweisen, als das Ereignis selber wirklich wahrzunehmen. Es ist also auch eine Form von Materialismus.


Es geht uns darum, einen Nachlass zu schaffen. Wir versuchen gegen die eigene Sterblichkeit im Gedächtnis unserer Zeitgenossen anzukämpfen. Dabei wird sich schon die übernächste Generation sich an uns nicht mehr erinnern. Hast du deine Urgroßeltern gekannt? Unsere Enkel und Urenkel werden für uns wie Vertreter einer historischen Epoche erscheinen und nicht mehr als seelisch nahestehende Menschen. Es ist erschreckend, wie schnell wir trotz unserer ganzen Zurschaustellung in Vergessenheit geraten werden. Daran ändern auch tausend Posts auf Facebook und noch weitere zehntausend Fotos auf Insta nichts. Das Leben ist endlich und somit auch die Erinnerung an uns. Das Universum wird nach ungezählten Jahrmilliarden letztendlich den Wärmetod sterben und absolut nichts wird übrig bleiben in der physischen Existenz mit Ausnahme von einigen erkalteten Gesteinsbrocken in einem stockfinsteren kalten unendlichen Raum. Das Universum wird für immer tot sein und biologisches Leben, die Voraussetzung für Bewusstsein, nie wieder existieren. Mit einer absolut unzweifelhaften Evidenz wird alles irgendwann verschwinden. Nichts, was irgendeine Bewusstseinsform sich anschauen könnte, wird zurückbleiben. Keine Erinnerungen, keinerlei Spuren im Universum.

September 2021

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