Das Ende der Geschichte
Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama schrieb im Jahre 1992 in seinem Buch Das Ende der Geschichte davon, dass das westliche demokratisch-kapitalistische System eine Art Endstation sei. Er beschreibt, dass die Entwicklung von menschlicher Zivilisation zwangsläufig in der Demokratie und der Marktwirtschaft seine Vollendung erreicht. Im Grunde genommen genau gleich wie Marx, argumentiert er als Philosoph, der die Geschichte der Menschen als eine Art geradlinige Entwicklung sehen will mit einem vorgesehenen Drehbuch.
Der erste Fehler ist schonmal die Annahme, dass zivilisatorischer Fortschritt linear verläuft. Ein amüsantes Gegenbeispiel aus der Weltgeschichte ist Frankreich. Ein Land, das einige Jahrhunderte lang von absolutistischen Herrschern regiert wurde, hatte plötzlich Lust auf eine Revolution. Darauf folgte die sogenannte Erste Republik, doch unter der Terrorherrschaft eines Komitees, das unter der Proklamation von Menschen -und Bürgerrechten tausende unter der Guillotine hinrichten ließ. Das darauf folgende Erste Kaiserreich knüpfte an die Tradition des antiken Römischen Imperiums an. Unter der Leitung eines größenwahnsinnigen Korsen wurde ganz Europa verwüstet unter dem Vorwand, man bringe den Völkern die Freiheit. Danach die Restauration und es wurde das monarchistische Frankreich von vor der Revolution wieder hergestellt. Also eine komplette historische Kehrtwende. Heute spricht man übrigens schon von der Fünften Republik. So läufts eben. Es gibt dauernd Retardierungen oder es geht sogar in die entgegengesetzte Richtung. Es kann lange dauern, bis Menschen erkennen können, dass man irgendwie vorangekommen ist. Fortschritt ist nur über lange Zeiträume hinweg zu erkennen.
Das andere Problem ist natürlich die Vorstellung eines Idealtypen der Gesellschaft. Man kann durchaus Ideale haben. Freiheitliche Demokratie ist definitiv ein gerechteres und angenehmeres System zum Leben als eine Diktatur. Doch erleben wir gegenwärtig auch wie sie an die Grenzen ihrer Beweglichkeit stößt. Eventuell sind wir den gigantischen Herausforderungen der Zeit mit unserem langsamen und komplexen System nicht gewachsen.
Doch was passieren wird, weiss eh keiner. Als wachsamer Geist kann man nur in die Welt schauen und sich die Geschehnisse vor Augen führen. Wenn man unsere Geschichte versteht, kann man vielleicht nicht die Zukunft voraussagen, doch ist man eher bereit all die Variablen der Welt mit in die Gleichung hineinzudenken. Was bedeutet es eigentlich, dass große Teile der Westlichen Bevölkerung sich heute von den alten Religionen abgewandt haben? Haben wir dadurch zwar an Offenheit und Erfindungsgeist gewonnen, jedoch an sinnstiftender Orientierung verloren? Wie ist Globalisierung zu beurteilen? Was bedeutet es eigentlich, dass Menschen und Waren wie zu keinem anderen Zeitpunkt in der Weltgeschichte um den Planeten zyklen aber die Staaten immer noch konträre Politik betreiben? Hat sich Wirtschaft globalisiert, aber Politik nicht?
Je weiter die Zeit zurückliegt, desto gröber teilt man sie in Epochen ein. Wie werden wohl die Historiker in zweihundert Jahren über unsere Zeit sprechen? Vielleicht ist für sie die Zeit 1945-2100 lediglich als die Epoche des Massenkonsums zusammenzufassen, in der die Menschen den Sinn für die planetare Fortexistenz entwickeln mussten, während zugleich das Wirtschaftswachstum als die einzige existierende Logik galt. Historiker in dreitausend Jahren wiederum werden die Zeit 1800-2200 vielleicht als die Epoche der Nationalstaaten betiteln, wo sich Menschen innerhalb imaginärer Kulturräume zugeordnet und darauf ihre Politik aufgebaut haben. Und Historiker in fünfzehntausend Jahren, wo der Homo oeconomicus längst durch den Homo vitalis abgelöst wurde in einer interstellaren Zivilisation Typ III, werden wohl die Evolution des Menschen als eine lange Geschichte betrachten bis zu einer ausgeglichenen Koexistenz des modernen Menschen mit seiner Umwelt und zu einem scheinbaren erneuten Ende der Geschichte. Und auch sie werden wieder enttäuscht werden.
Juli 2021