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Die Illusion vom Lebenslangen Lernen

Das Leben ist kurz, sagen alle. Ich bin anderer Meinung. Wenn ich an all die Begebenheiten zurückdenke, die für mich etwas bedeutet haben, komme ich mit dem zählen nicht hinterher. Mein Leben jedenfalls kommt mir enorm ereignisreich vor, schon fast zugestellt. Ich versuche, mich an all die Eindrücke jeden Tag zu erinnern und sie als schimmernde Gemälde in meinem unendlich langen Gedächtnis-Korridor aufzuhängen. Manche sind grösser und prächtiger, andere kleiner und weniger bedeutend. Dennoch vervollständigen sie alle zusammen das permanent wachsende Mosaik der Biographie, die aus schimmernden Bunt- und Grautönen meine Identität formt. Allein jemals existiert haben zu dürfen, ist für mich schon ein grosses Privileg. Und dann auch noch in einem Land wie diesem geboren sein zu dürfen, zur Jahrtausenwende, dem Höhepunkt des bedenkenlosen Konsums, dem Peak der freiheitlichen individuellen Entfaltung. Das ist des Guten schon fast zu viel. So viele tolle Erlebnisse versetzen mich in DemutFühre ich mir die Halloween-Party vor Augen, als wir scharenweise die ganze Nacht mit Techno-Sound durch den Wald gestreift sind; dann finde ich, falls ich morgen sterben würde, wäre es voll OK.

Seit ich dreissig bin, betrachte ich die Zahl als das neue jung. Zuvor war dreissig alt, jetzt ist vierzig für mich alt und bis da ist es ja noch eine Weile hin. Ich fühle mich so frisch, munter und tatenlustig wie nie zuvor. Nicht umsonst sagt man doch heutzutage, 30 sei das neue 20. Eine aufregende Vorstellung. Und ich glaube, sie entspringt unserem zeitgenössischen Selbstobtimierungskult, der kapitalistischen Vorstellung unserer eigenen Person. Forever Young. Den Körper und den Geist trainieren, die beste Version seiner selbst. Streunender gerissener Schatten, mein optimiertes Ich, durch die Schemen der Zeit und Umwelt streifend, zu schnell, um sich lange mit ihr zu beschäftigen. Das Höher, das Weiter, das Besser; diese utopischen Vorstellungen erzeugen in uns Begeisterung und den Willen, über uns selbst hinaus zu wachsen. Ich glaube, eine realitätsbezogene Motivation schadet niemandem. Ich glaube, man ist am glücklichsten, wenn man sich selbst als der Protagonist seines eigenen Lebens versteht. Doch man sollte nicht in Illusion verfallen, dass das Leben ein permanenter Zustand gesteigerter Leistung und Lernfähigkeit ist. Ja, ich glaube nicht einmal, dass man permanent weiser und klüger wird.

 

Ich erlebe viele meiner Freunde in ihren Ups und Downs, mich selbst natürlich inbegriffen. Beziehungen, die scheitern, Glücksmomente in der Gemeinschaft, individuelle Erfolge. Unerfüllte Träume, denen wir dennoch nachhängen, weil es ja angeblich nie zu spät ist. Das Leben ist lang, wenn man sich Mühe gibt, sich immer wieder für etwas neues zu begeistern. Der Trott, die Routine und die ständigen eintrainierten Wiederholungen sind die Feinde des Abenteuers. Das Unvorhersehbare hat seinen Reiz, weil es Risiko mit sich bringt, gleichzeitig neue Sphären des Erfolges verspricht. Wir erleben immer wieder unsere Aha-Momente. Selbst im hohen Alter kann einem das noch passieren. Doch die Frage ist, ob man denn immer etwas daraus lernt. Denn auch das Lernen ist keine Neverending Story.

 

Es gibt den romantischen Begriff des Lebenslangen Lernens. Ich glaube nicht daran. Ich glaube, das Lebenslange Lernen entspringt eben genau dieser zuversichtlichen Vorstellung des Wachstums, des kapitalisierten Besserwerdens. Dieses Besserwerden muss ja nicht zwingend unsympatisch sein. Schliesslich ist auch das Wachsen als Mensch, als Person, die lernt und sich Mühe gibt, andere Menschen besser zu verstehen, gesteigerte Empathie entwickeln, eine Form der Selbstoptimierung. Aber ich halte sie für eine Illusion. Zumindest trifft das für die meisten Menschen zu. Irgendjemand hat mal gesagt, dass jede Person ein biographisches Alter hat, auf dem sie einfach stehen bleibt. Das kann mit zweiunddreissig sein, es kann auch erst mit siebenundfünfzig sein. Doch eines Tages ist der Moment gekommen, wo man sich nicht mehr älter fühlt. Körperlich natürlich schon, aber geistig nicht. Von da an machen wir zwar weiterhin Erfahrungen, aber wir lernen nicht mehr dazu. Vielleicht tun wir das noch in kleinen Dosierungen. Aber die grundsätzliche Fähigkeit, aus Erfahrungen Schlüsse zu ziehen, Verhaltensweisen anpassen, im Geiste flexibel und skeptisch zu bleiben; die kommt uns irgendwann abhanden. Ich glaube, das ist natürlich. Vielleicht gibt es bei jedem und jeder irgendwann einen Turning Point. Man bleibt stehen und blickt zurück. Die Denkmuster sind zementiert, das Weltbild weitestgehend geformt. Alle Fenster stehen offen, doch keine neue Brise weht hinein. Die vertrauten Muster kehren täglich wieder, auch wenn man glaubt, Nuancen zu erkennen.

Man muss sich nur einmal klar machen, wie schwierig es überhaupt ist, lernfähig zu sein. Wann haben Sie zum letzten Mal in Ihrem Leben tatsächlich etwas fundamental verändert? Wir wollen uns doch alle verändern und denken es jeden Morgen nach dem Aufwachen wieders aufs Neue. In Wirklichkeit ist es verdammt schwierig. Wir Menschen sind keine Maschinen, die sich optimieren lassen. Wir können mit uns selbst nicht ständig Updates durchführen. Unser Wohlbefinden richtet sich nach unseren erbrachten Leistungen, sondern nach den Beziehungen zu den anderen. Ob wir von den anderen geliebt, bewundert, respektiert oder gefürchtet werden; das sind für uns die wichtigen Kategorien. Bestätigung, Anerkennung, oder einfach das Gefühl, man spielt für die anderen eine Rolle, man bedeutet ihnen etwas, sei es als empathischer Freund oder als bewunderungswerter Zeitgenosse. Ich glaube dennoch, dass die Illussion vom Lebenslangen Lernen einem helfen und Kraft spenden kann. Es ist eine Quelle, aus der man Hoffnung und Zuversicht schöpft. Und Hoffnung ist das Einzige, was stärker ist als Angst. Aber zugleich kann trügerische Hoffnung toxisch sein.


Ich glaube, das Wichtigste, was man als Individuum im Leben erreichen kann, ist die Selbstachtung; mit sich im Reinen zu sein, wie es manchmal so schwülstig ausgedrückt wird. Zu wissen, wer man ist, was man kann und was man nicht kann. Erst, wenn wir uns akzeptieren, sind wir imstande, von Dingen loszulassen, von Illusionen, selbst von anderen Menschen. Doch es ist schwierig. Jeden Tag denke ich an all das, was ich noch erreichen möchte und spreche meinem Gewissen Mut zu. Ich wünschte, ich wäre einer jener Menschen, die das offensichtlich so einfach schaffen, bei denen es auf natürliche Weise klappt. Ich kann das!, höre ich mich sagen. Ich kann das auch lernen. Und wenn nicht heute, dann morgen, oder übermorgen, oder irgendwann… ein Leben lang.

April 2025

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