Die verlorene Streitkultur
Seit einiger Zeit ist in der Öffentlichkeit von einer neuen Art von Zensur die Rede: Cancel Culture. Beklagt wird, dass die Meinungsfreiheit immer mehr bedroht wird. Viele Meinungen, die von den sogenannten Mainstream-Meinungen abweichen, würden heute degradiert und die Personen, die sie vertreten, geächtet. Da man sich aber nicht genau erklären kann, woher diese Repression kommt und wer dafür verantwortlich zu machen ist, wollen viele einer sogenannten politisch-medialen Elite die Schuld zuschreiben. Dieser wird vorgeworfen, dass sie mit der Durchsetzung sprachdidaktischer Zwänge die Meinungsfreiheit einschränken will. Allerdings sind dies hilflose Erklärungsversuche. Man sieht nicht, dass die Gründe für diese gefühlte Repression viel tiefer liegen und damit zu tun haben, dass uns seit langem schon unsere Streitkultur abhanden kommt. Dieses Defizit versuchen viele mit dem Begriff Cancel Culture zu füllen.
Das Lieblingsbeispiel von vielen der Protestler ist die Einführung der gendergerechten Sprache. Wie man schon ahnen kann, gehört ein großer Teil der Unzufriedenen einem eher älteren, eher rechten Teil der Gesellschaft an. Dass es in der Gesellschaft immer mehr Reibungen gibt, ist natürlich auch der Tatsache geschuldet, dass wir einen verstärkten Generationenkonflikt haben. Junge linke Ideen preschen in einem Tempo voran, dass vielen Leuten schwindlig wird, selbst den älteren Linken.
Um der Sache auf den Grund zu gehen, muss man sich erstmal im Klaren darüber werden, wo eigentlich diese angeblichen Zensuren von abweichenden Meinungen stattfinden. Der große gesellschaftliche Streit findet heutzutage nicht mehr im öffentlichen Raum statt, weder auf Marktplätzen, noch in Podiumsdiskussionen. Neunzig Prozent dessen, was heute in der Gesellschaft als politische Auseinandersetzungen geführt wird, findet im Internet statt. Der Raum hat sich komplett verschoben. Hat man sich früher noch auf einen Marktplatz stellen müssen um seine Ansichten in die Welt zu posaunen oder sich mit anderen am Stammtisch raufen, kann man heute bequem von jedem Wohnzimmer aus seinen Senf zu Allem hinzugeben. Der virtuelle Raum ist allerdings nicht geeignet für echte Debatten. Man kann hier nicht in Realtime diskutieren. Er bietet keinen Ersatz für das reale Gespräch. Kontroverse Diskussionen sind abgelöst worden durch den schnellen Kommentar unter Videos, Bilder oder sonstigen Posts. Es gibt keinen Dialog mehr, sondern nur noch pauschaler Schlagabtausch, oft in vulgärer Sprache. Es ist manchmal witzig sich vorzustellen, das ganze Volumen unserer Pöbeleien, Anfeindungen, Meinungsäußerungen auf den sozialen Kanälen, würde sich tatsächlich im Öffentlichen Raum abspielen. Man stelle sich einen Bus vor, in dem fünfzig Menschen, die normalerweise die Kommentarspalten unter Facebook-Posts zuscheißen, dies analog tun würden. Der ganze Bus wäre ein einziger Papageienkäfig, in dem man die eigene Stimme nicht mehr vernehmen würde. Aber das geschieht natürlich nicht. So sehr heute im Netz die Anfeindungen kochen, so herrscht im öffentlichen Raum blankes Schweigen.
Zudem halten sich die Leute online fast nur in ihren Informationsblasen auf und verlieren den Bezug zur Wahrnehmung anderer Leute. In einer Gesellschaft, wo die Leute nicht mehr miteinander reden, radikalisieren sich die unterschiedlichen Gruppen viel schneller als in einer kommunikativen Gesellschaft. Je radikaler man wird, desto weniger Interesse hat man, sich überhaupt mit den Ansichten der anderen Seite zu beschäftigen. Die Meinungen anderer werden zu bloßen Störfaktoren, die keinerlei inhaltliche Relevanz haben und die man irgendwie loswerden muss. Also versucht man sie schlichtweg nieder zu schreien. Geschrei findet im Netz heute immer sehr schnell groß Zulauf. Virtuelle Aufmärsche in den Netzwerken können heutzutage innerhalb von kurzer Zeit eine gigantische Größe erreichen und einen Shitstorm lostreten, der eine einzelne Person sogar ihren Job kosten kann. Wir leben in einer enorm moralisierten Gesellschaft. Heute müssen Leute in Spitzenpositionen moralisch vollkommen makelfrei sein. Bei der kleinsten missglückten Formulierung in einer Rede, müssen Politiker sich heute hinterher oft wochenlang entschuldigen. Begriffe wie Rassismus oder Sexismus fliegen einem um die Ohren. Über alles und jeden werden schnelle Urteile gefällt, die zum großen Teil auf Emotionen beruhen und nicht auf langen Gedankengängen.
Cancel Culture ist das Symptom einer entpolitisierten und vollständig moralisierten Gesellschaft. Entstanden ist sie durch die Verschiebung des politischen Raumes in die Sozialen Medien, wo keine Debatten mehr stattfinden. Mit dieser Entwicklung begann der Verlust unserer Streitkultur. Wir verlernen, uns mit anderen Meinungen auseinandersetzen zu müssen. Sie gehören nicht mehr zu unserer Welt, nicht mehr zu unserer Wahrnehmung. Deswegen werden sie schlicht gecancelt.
September 2021