Bin ich noch Demokrat?
Diesen Herbst wählen wir wieder unser Parlament. Bei all der üblichen mühseligen Informionsbeschaffung über Volksvertreter aus verschiedenen Parteien, ist die demokratische Hausaufgabe doch elementar für das Funktionieren unseres Regierungssystems. Mein Land ist eine Demokratie und ich möchte es nicht anders haben. Letztes Jahr habe ich in einem fernen Land einen echten Eindruck bekommen, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Keine Redefreiheit, Polizei an jeder Ecke, Statuen und Bilder eines gottähnlichen Präsidenten wo man auch hinblickt. Seither schätze ich unsere Staatsform mehr denn je.
Dennoch gestehe ich mir ein, dass mich manchmal der Gedanke beschäftigt, dass unser System vielleicht manchen Herausforderungen, deren Problemlösungen keinerlei Aufschub duldet, nicht gewachsen ist. Seit das Thema des Klimawandels breit im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist, haben wir zum ersten Mal in unserer Geschichte die Situation, dass wir uns mit einem globalen Problem konfrontiert sehen, welches nicht mit den klassischen Mitteln anzugehen ist, mit denen wir bisher die Soziale Frage immer zu beantworten versuchten. Hier verhandeln nicht Menschen mit Menschen. Hier haben wir es mit der Natur, die nicht verhandelt. Wenn man auf die Wissenschaft hört, dann gibt es in nicht ferner Zukunft bestimmte Zeitmarken, an denen man gewisse Klimaziele einhalten muss, da sonst naturale Prozesse in Gang gesetzt werden, die wir überhaupt nicht mehr beeinflussen können, geschweige denn stoppen. Wir haben also einen großen zeitlichen Druck. Wenn ich mir die Demokratie in der Schweiz ankucke, dann kann ich zum einen daran feststellen, dass sie für wahnsinnig viel Stabilität sorgt, zum anderen aber politsche Entscheidungsprozesse enorm verlangsamt. Neulich kam zum gefühlt zwanzigsten Mal eine Abstimmungsunterlage der Stadt Winterthur über irgendein neues CO2-Gesetz, weil die vorangegangenen nicht effektiv genug waren oder gescheitert sind. Wir haben vielleicht das langsamste System der Welt. Jedenfalls ist es in unserer basisdemokratischen Struktur kaum möglich, radikale einschneidende Prozesse in Gang zu setzen, weil sich an jeder Ecke Bürgerinitiativen sammeln oder Referenden ergriffen werden.
Irgendjemand Schlaues hat mal gesagt, dass die Demokratie an Voraussetzungen gebunden ist, die sie selbst nicht garantieren kann. Jede Staatsform kann auf eine Weise scheitern. Doch die Demokratie ist vielleicht die fragilste von allen. Eine Diktatur braucht die Angst der Menschen. Eine Demokratie jedoch braucht ihr Vertrauen. Demokratie hängt davon ab, ob die Leute an sie glauben. Tun sie es nicht mehr, dann geht das System innert kurzer Zeit unter, oft einhergehend mit Gewalt.
Aber woran glauben wir eigentlich, wenn wir an die Demokratie glauben? Im Kern geht es dabei um drei Dinge: Zum einen ist es der Glaube ans Individuum. Jeder Mensch kriegt eine Stimme. Es gibt auf der Grundebene die Verteilung der Macht an jedes einzelne Individuum. Egal, wer man ist, wie klug oder doof, er oder sie hat das Recht mitzubestimmen. Und das wichtige ist, dass auch die Leute, mit denen man überhaupt nicht übereinstimmt, eine Stimme kriegen, weil die manchmal Sachen aussprechen, die wir anderen nicht wahrhaben wollen. Der zweite Punkt ist, dass der Glaube an die Demokratie auch der Glaube daran ist, dass Menschen lernen können. Das Volk, welches die höchste Macht in unserem Staat ist, besteht aus Menschen, die imstande sind zu lernen und sich zu verändern. Sie können ihre Meinung revidieren, Dinge einsehen, neue Ansichten gewinnen. Dies alles ist wichtig für den gegenseitigen Austausch und die Überzeugungsarbeit, die man leisten kann. Demokratie ist die einzige Gesellschaftsform, die es den Menschen zumutet zu lernen. Man kann als Mensch nur weiser werden, wenn man den Freiraum hat, selber zu denken und mitzubestimmen. Deswegen ist auch ein gut funktionierendes Bildungssystem eine Grundvoraussetzung der Demokratie. Der dritte Punkt ist, dass Demokratie auch der Glaube an die Mehrheit ist. Damit das System effektiv sein kann, braucht es die Entscheidungsgewalt der Mehrheit. Und diese Mehrheit hat laut dem demokratischen Grundverständnis eine Legitimität und den Anspruch, die richtige Entscheidung zu treffen. Man sollte als guter Demokrat keine despektierliche Meinung der Mehrheit haben.
Wenn ich mein eigenes Vertrauen an unser System überprüfe, muss ich feststellen, dass mir Bedenken kommen. Beim Glaube ans Individuum hätte ich überhaupt keine Zweifel. Meinem humanistischem Weltbild liegt die Überzeugung zugrunde, dass jeder Mensch das Recht auf Mitbestimmung in dem System, in dem er lebt, hat. Beim zweiten Punkt (Menschen können lernen) bin ich schon skeptischer. Ich glaube nicht, das Menschen unbelehrbar sind. Aber ich denke, dass es menschliche Kräfte gibt, die stärker an unserem Willen zerren als der Wunsch, sich wirklich zu verändern und anzupassen, vorallem wenn es einher geht mit Wohlstandsverlust und anderen Einbußen. Dazu kommt, dass Wissen und Handeln einfach nicht dasselbe sind. Unsere Intelligenz trifft keine einzige Entscheidung, unsere Emotionen tun das. Kognitive Lernfähigkeit gibt es zwar und hat auch schon bei vielen Leuten zu einem veränderten Verhalten geführt, doch angesichts der drängenden ökologischen Probleme kommen manche Einsichten vielleicht nicht schnell genug. Daraus folgt dann eben auch, dass mein Glaube an die Mehrheit schwindet. Ich nehme aus meiner linksgrün-versifften Perspektive die Mehrheit der Bevölkerung als konservativ war, die die notwendigen Schritte eher verhindert als fördert. Ich sehe vor mir das Scheitern unserer Zivilisation an einer Mehrheit, die sich nicht verändern will, bis tatsächlich alles in einem Konflikt mündet.
Was also folgt daraus? Heisst das, ich bin kein guter Demokrat? Und wenn ich kein Demokrat bin, was bin ich denn dann? Ein Antidemokrat? Ein Faschist? Oder bin ich zumindest empfänglich für autokratische Ideen? Ich würde sagen, ja. In gewisser Hinsicht finde ich die Demokratie ineffektiv und möchte eine Veränderung. Während der Covid-Pandemie hatten wir die Situation, dass Demokratie teilweise eingeschränkt wurde und die Regierung über mehr Entscheidungsgewalt verfügte. Unser Regierungssystem ist also schlau genug konzipiert, dass solche Mechanismen des Abbaus von Mitbestimmung eingebaut wurden, wenn eine akute Bedrohung im Raum steht. Und durch demokratische Mittel liessen sich weitere solche Mechanismen auch problemlos einführen. Der Abbau von Demokratie ist legitim, solange er durch demokratische Entscheidungen herbeigeführt wird. Simpel gesagt ist es OK, wenn sich Demokratie selbst abschafft.
Doch es muss auch nicht zwingend zum Guten führen. Auch Hitler kam auf demokratischem Weg an die Macht, nachdem er mit seinem Putsch gescheitert war. Wir sehen auch bei gewählten Präsidenten wie Trump, Modi oder Orban, dass die Frage, ob aus Demokratie auch das Böse entstehen kann, wieder mehr Interesse verdienen würde. Ich will auf keinen Fall, dass wir uns die Möglichkeit nehmen, neutral und nüchtern über unser System nachzudenken und auch die Schwächen daran zu thematisieren. Die Demokratie ermöglicht es uns ja gerade, über diese Dinge nachzudenken und darüber zu streiten. Und deswegen ist Demokratie auch die einzige Form, die es den Menschen erlaubt zu scheitern.
April 2023