Aus der Sicht eines (ehemaligen) Putin-Verstehers
Seit gut einem Monat tobt ein mörderischer Krieg im Osten von Europa; etwas, das ich selbst nicht für möglich gehalten hätte. Ich war mir absolut sicher, dass diese Drohgebärden mit den Truppenaufmärschen an der ukrainischen Grenze nur Show von Putin sei und dass es, wenn es eine militärische Eskalation geben würde, wie so oft von der NATO verschuldet werden würde. Die Ereignisse haben mich eines Besseren belehrt.
Ich bin jemand, der sich in den Jahren zuvor oft den sogenannten Putin-Verstehern zurechnen liess, und obwohl ich in vielen Dingen meine Einschätzungen über den Mann geändert habe, sind meine Überzeugungen, dass wir (und damit meine ich im Allgemeinen den Westen, obwohl man natürlich sagen muss, dass die Schweiz da ja oft Sonderwege einschlägt) seit dem Fall der Sowjetunion einen unklugen politischen Umgang mit Russland betreiben, dieselben geblieben. Wie man feststellen muss, avanciert der früher noch etwas herablassend verwendete Begriff Putin-Versteher oder Russland-Versteher nun zum absoluten Schimpfwort. Wurde man früher manchmal noch in produktiven Diskussionen herausgefordert, ist man heute Putin-Freund und Anhänger des Bösen. Auf jeden Fall steht man auf der falschen Seite und befürwortet Krieg, Völkerrechtsbruch und Autokratie. Besonders frustrierend dabei ist, dass sich viele nun bestätigt sehen. Putin hat die Ukraine angegriffen. Dies ist für die meisten nun der Beweis dafür, dass all unsere Bemühungen mit diesem Putin-Russland auf Linie zu kommen, von Anfang an umsonst gewesen sind. Es hatte nie einen Zweck zu versuchen, mit diesem ehemaligen KGB-Agenten ein gutes Verhältnis zu schaffen, denn er hat sich nun als das wahre Monster entpuppt, das er schon immer gewesen ist.
Dabei ging es Leuten wie mir niemals darum, dass man irgendwie mit Putin einverstanden ist oder seine Politik für gut hält. Es ging auch nicht darum, dass man mit erhobenem Zeigefinger die Gründe aufzählt, warum wir nicht besser sind als Putin und seinesgleichen und uns deswegen nicht für moralisch überlegen halten dürfen. Es ging überhaupt nicht darum, uns irgendwie zu vergleichen oder das Gute an Putin und einem autokratischen Staatsapparat in Russland hervorzuheben. Es geht darum, dass man unseren ungeschickten Umgang mit einem sehr komplizierten und schwierigen Land kritisiert, dessen Kultur uns so oft nicht geheuer erscheint und Verständnislosigkeit auslöst. Ein triviales Beispiel sind Fotos von Putin mit nacktem Oberkörper in der Natur, der sich als starker Mann präsentieren will und von uns in den Medien für diese uns infantil erscheinende Selbstdarstellung verspottet wird. Dass dies jedoch Propaganda ist, die in Russland aufgenommen wird und mit dem sich die Menschen identifizieren können, wird bei uns nicht ausreichend thematisiert.
Dass bei uns im Westen nach und nach demokratische Systeme entstanden sind, ist das Ergebnis ungezählter blutiger Konflikte, Revolutionen, Bürgerkriege, der Entstehung eines Besitzbürgertums und der Organisation von Arbeiterschichten, die alle mit der Zeit begannen, politische Rechte einzufordern. Die russische Gesellschaft sieht da ganz anders aus. Man hat oft überhaupt nicht im Bewusstsein, dass Russland ein Land ist, das niemals auch nur die geringste demokratische Tradition hatte. Das russische Volk kennt seit jeher nur Autokratie, sei es im Zarenreich oder später im Sowjet-Kommunismus. Unter diesen Voraussetzungen brach die UdSSR 1991 zusammen und von heute auf morgen stand die gesamte Planwirtschaft zur Disposition. Man konnte sehen, wie das ganze Land in der Jelzin-Zeit ausverkauft wurde, wodurch dann die berüchtigte Oligarchen-Schicht entstand, die auch heute noch ihr Unwesen treibt. Putin, der mit sehr viel von dieser Korruption aufräumte, gab den Russen wieder ein Gefühl von Stolz zurück. Diese fühlten sich unfassbar gedemütigt während der Zeit mit Boris Jelzin, einem permanent besoffenen Präsidenten, Lieblingsrusse des Westens, der das russische Ansehen aus ihrer Sicht mit Füßen trat. So entstand eine gedemütigte Großmacht. Die Geschichte lehrt uns immer wieder, dass solche Länder gefährlich sind. Genau wie Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Das einzige was dagegen hilft, ist ein neues freiheitliches Gesellschaftsmodell zu etablieren, das von Anfang an von grosser System-Zustimmung in der Bevölkerung getragen wird. Dies ist in Westdeutschland mit der Etablierung einer Sozialen Marktwirtschaft und dem Marshallplan geglückt. In Russland hatte niemand eine Ahnung, was nach dem Staatssozialismus kommt. Einige wenige machten sich das ganze Land zur Beute und das Chaos mit sich absplitternden Republiken setzte nochmal einen oben drauf.
Durch diese Miseren hindurch, blieb die nationale Identität wichtiger denn je. Auf diesem Boden konnte, nicht zum ersten mal, ein repressiver Staatsapparat entstehen, der die Presse zensiert, Wahlen manipuliert und in Wahrheit eine gelenkte Scheindemokratie ist. Und dieses System wird eben von den meisten Menschen dort bevorzugt. Was heute für eine emporsteigende Mittelschicht in Russland das Verständnis von westlichem Lebensstil ist, ist allein gesteigerter Konsum und überhaupt nicht demokratische Werte. Wir haben immer die Maßstäbe von modernen liberalen Demokratien, wie wir sie von uns kennen, am System Putin angesetzt und gedacht das würde reichen. Wir hätten von Anfang an verstehen müssen, wie ungeheuer wichtig es ist, diesem Land auf die Sprünge zu helfen und alles erdenkliche zu unternehmen. Doch Stolz auf beiden Seiten haben die Bemühungen nach und nach zum erliegen gebracht. Hinzu kommt natürlich die Rolle der NATO, die fehlerhafterweise auch nach dem Ende des Kalten Krieges noch fortbestand. Die eigentliche Doktrin der NATO aus Sicht der USA; Keep the USA in, keep Russia out and keep Germany down hat uns in eine Lage permanenter geopolitischer Unsicherheit auf dem europäischen Kontinent gebracht.
Dass ich selbst nach wie vor versuche, diesen Hintergrund zu verstehen, hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich mit Putin sympathisiere. Putin ist ein Kriegsverbrecher und zwar nicht erst seit diesem Februar, sondern schon seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg. Er gehört zurecht vor das internationale Strafgericht in Den Haag, genauso wie übrigens auch George W. Bush und Tony Blair, und streng genommen auch Gerd Schröder und Joschka Fischer.
Doch nun stehen wir vor einem Trümmerhaufen. Unser Verhältnis mit Russland ist nun wohl auf viele Jahre hinweg wieder an dem absoluten Tiefpunkt angelangt. Ich persönlich bin darüber zutiefst niedergeschlagen, weil ich trotz all der Schwierigkeiten trotzdem immer die Hoffnung hatte, dass Russland durch verstärkten kulturellen Austausch und eine jüngere russische Generation nach und nach den Weg in eine neue Gesellschaft findet. Doch diese Möglichkeit ist nun wieder in weite Ferne gerückt, denn durch das wieder geschaffene feindselige Klima von beiden Seiten, Wirtschaftssanktionen und erneutes Wettrüsten wird aus Russland eine immer verstocktere Diktatur. Und die Zeichen, wie sie momentan im Rest von Europa zu lesen sind, lassen bei mir wenig Optimismus übrig.
Es sind Zeiten angebrochen, wo man die berühmten Shifting Baselines so drastisch vorgeführt kriegt, wie schon lange nicht mehr. Olaf Scholz verkündet im Deutschen Bundestag die Freistellung von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, ohne dass es dabei ernsthaften Protest in der Bevölkerung gibt. In der Schweiz wollen die Rechten und die Liberalen die neuen Kampfjets sofort beschaffen und dabei sogar das Referendum überspringen, was unserer Demokratie fundamental widerspricht. Vielleicht mag man darin auch ein verunsichertes Europa erkennen, dass seit langem verlernt hat, sich in Sicherheitsfragen selbst zu helfen.
All dies geschieht zum schlechtesten Zeitpunkt, den man sich vorstellen kann. Im frühen 21. Jahrhundert, wo sich die gesamte Menschheit zusammenraufen müßte, um gemeinsam den Klimawandel zu bekämpfen und eine nachhaltige Weltwirtschaft zu erfinden, können wir es uns einfach nicht leisten, wieder Militarismus zu betreiben. Wir können schlicht nicht mehr 20. Jahrhundert spielen! Die Vorstellung, dass wir es uns jetzt leisten wollen, den politischen Schwerpunkt wieder auf nationale Konfrontationen auszulegen ist in unserer Lage dermassen absurd wie fatal! Wir müssen jede Anstrengung aufwenden, dass wir in den kommenden Jahrzehnten am selben Strang ziehen, so zermürbend und frustrierend es auch sein mögen wird. Konfrontation ist überhaupt keine Option mehr! Ohnehin hat man es mit einer Atommacht zu tun. Es müsste jedem klar sein, dass wir die Zeiten des konventionellen Krieges sowieso lange hinter uns haben und dass es zwischen westlichen Staaten und Russland gar keinen konventionellen Krieg mehr geben kann. Je früher diese Einsicht in die Köpfe gelangt, desto besser. Denn eines zeigt dieser gegenwärtige Konflikt ganz deutlich: Es gibt in Europa keine Sicherheit, solange Russland nicht Teil eines gemeinsamen Bündnisses ist. Ansonsten wird sich dieser Konflikt bis in alle Zeiten wiederholen.
März 2022